Buchcover: Timm Rautert - Deutsche Geschichten 1968-1978 © Steidl Verlag

Fotoband: "Deutsche Geschichten 1968-1978" von Timm Rautert

Stand: 01.05.2022 08:02 Uhr

Der Fotograf Timm Rautert ist für seine Künstlerporträts und Sozial-Reportagen bekannt. Ein neues Buch aus dem Göttinger Steidl-Verlag bringt jetzt erstmals einige dieser Serien zusammen in einem Band heraus.

von Janek Wiechers

17. Februar 1968. Im bis zum Bersten gefüllten Audimax der TU Berlin steht Rudi Dutschke am Rednerpult, umringt von Studentinnen und Studenten. Ernste Mienen allenthalben, Rollkragenpullover, Hornbrillen, Lederjacken; ikonisch gewordene 68er-Posen. Mit seiner Kamera mittendrin: der 27-Jährige Timm Rautert - damals selbst Student an der Folkwangschule in Essen. In kontrastreichen, körnigen Schwarz-Weiß-Bildern dokumentierte er den Internationalen Vietnamkongress, Schlüsselmoment der westdeutschen Studentenbewegung.

"Auf der Bühne hang ein riesiges Transparent in den Farben des Vietcong, Blau, Rot, Gelb, und da stand er fett und groß, der Che Guevara zugeschriebene Aufruf: "Die Pflicht eines jeden Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen". Ja klar. Das war es, nur: Wie sollte man das anstellen?" Leseprobe

Knapp 20 dokumentarische Serien in modernisierter Druckqualität

Mit einiger ironischer Distanz kommentiert Timm Rautert im Begleittext zu seinem neuen Fotoband "Deutsche Geschichten 1968 bis 1978" seine frühen Arbeiten. Damals, in den 60er-Jahren, schreibt der heute 81-jährige Rautert, sei er noch der festen Überzeugung gewesen, mithilfe der Fotografie die Welt besser machen zu können. Später, genau genommen 1979, am Grab von Rudi Dutschke, habe er gewusst, dass das eben nicht funktioniert.

Ob Rauterts Fotografien weltverbessernd wirken, muss wohl jeder Betrachter selbst entscheiden. Zumindest zeigen sie eindrücklich, wie sie ist, die Welt. Der neue Bildband aus dem Steidl-Verlag vereint knapp 20 dokumentarische Serien in großartiger, modernisierter Druckqualität erstmalig in einem Buch. Es sind vor allem Auftragsarbeiten, die Rautert für das Magazin der Zeitung "Die Zeit" fotografierte.

Schonungslose, teilweise schwer zu ertragende Fotos

Er dringt in seinen Fotoreportagen in Milieus vor, die damals nur wenige mit der Kamera aufsuchten. Wie 1970, als Rautert Contergan-geschädigte Kinder in ihrem Schulalltag begleitete. Es sind auch heute noch schwer zu ertragende Fotos, die direkt und schonungslos die Kinder mit ihren missgebildeten Gliedmaßen zeigen. Und trotz aller Schwere zeugen sie zugleich von der unbändigen Lebensfreude der Kinder.

Die Fotos erscheinen niemals voyeuristisch - obwohl sie ganz dicht dran sind an Menschen und an den Orten, an denen sie leben. Rautert ging dorthin, wo es wehtat, ja unangenehm wurde. Zu sehen ist das auch in jener faszinierenden Serie über das Leben von Obdachlosen, die Rautert 1975 in Köln fotografierte. Es sind grauenhafte Zustände, die der Fotograf in den schmuddeligen Schlafsälen der Obdachlosenunterkünfte der Bundesrepublik vorfand. Trotz allen Elends nehmen die Bilder den Fotografierten aber nicht ihre Würde.

Ein Land mit sozialen Verwerfungen

Rautert zeichnet in seinen Bildern im besten Sinne ein Sittengemälde Deutschlands der später 60er- und frühen 70er-Jahre. Ein Land, in dem nur wenige Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg soziale Verwerfungen sichtbar wurden. Der Dokumentarist schaute sich fotografisch um in einem Land, das geprägt war von Arbeitslosigkeit, industriellem Verfall, desillusionierten drogenabhängigen Jugendlichen - "Streunern", wie man sie in der Zeit noch abfällig titulierte. Sie hausen in Rauterts Fotos in heruntergekommenen Abbruchhäusern. Und schauen mal mit leerem, mal mit rebellisch-störrischem Blick in dessen Kamera.

Urlaub auf dem Campingplatz: Einblicke in das Leben der DDR-Bürger

"Nahezu jeder neunte DDR-Bürger verbringt seinen Urlaub auf dem Campingplatz. Meist ist der Arbeitskollege auch dort dabei: Denn drüben organisieren die Betriebe für ihre Werktätigen die Ferien im Zelt. Seit einem Jahr dürfen auch Westdeutsche in Thüringen und an der Ostsee campen", heißt es in Michael Holzachs Text zur Foto-Serie "Camping im Kollektiv" von 1977. Dafür besuchte Timm Rautert Ferienanlagen volkseigener Betriebe in der DDR und zeigte, wie Menschen im Arbeiter- und Bauernstaat ihre Freizeit verbrachten. Die Fotoreportage bot den Westdeutschen einen unerwarteten Einblick in das Leben des abgeschotteten Nachbarlandes. Und wie in allen Arbeiten Rauterts wird auch hier eine gewisse Melancholie sichtbar. Er thematisiert in seinen Serien die Traurigkeit heimatvertriebener Ostflüchtlinge ebenso wie die Lebensrealität sogenannter Gastarbeiter oder Romafamilien am Rande der Gesellschaft.

Faszinierende Zeitdokumente

Deutschland erscheint in diesem Fotoband mitunter als ein zerrissenes, sozial instabiles Land. Als eines, das einem aus heutiger Sicht seltsam fremd vorkommt. Das liegt nicht nur an der Schwarz-Weiß-Ästhetik, sondern auch an den merkwürdig desolaten Lebensumständen von damals, die in dieser Krassheit zum Glück der Vergangenheit angehören. Insofern sind Rauterts Fotografien aus heutiger Sicht vordringlich eines: faszinierende Zeitdokumente, in denen eine Vergangenheit nachschwingt - eine, die allerdings noch gar nicht so sehr lange zurückliegt.

Deutsche Geschichten 1968 - 1978

von Timm Rautert
Seitenzahl:
248 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
155 Fotos
Verlag:
Steidl
Bestellnummer:
978-3-95829-966-5
Preis:
38,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 01.05.2022 | 16:20 Uhr

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