Stand: 09.08.2019 16:00 Uhr

Saul Leiter: Ein Pionier der Farbfotografie

von Andrea Schwyzer

Er wurde erst spät als Pionier der Farbfotografie entdeckt und berühmt: Der Fotograf und Maler Saul Leiter. Die Deichtorhallen in Hamburg widmeten ihm eine umfassende Retrospektive und brachten begleitend den Bildband mit dem schlichten Titel "Saul Leiter" heraus. Nun, sieben Jahre später, erscheint beim Kehrer Verlag die Neuauflage dieses Bildschönen Bandes. Darin finden sich auch Zeichnungen, Gemälde und Aktfotografien des Künstlers. Vor allem in den Straßenfotografien kann man sich verlieren. Sie zeichnen Saul Leiters Werk besonders aus.

1958. Es ist einer dieser saukalten, garstigen Tage, an denen New York im Schnee versinkt. Ein flüchtiger Blick über die Straße. Dort läuft eine in Grau und Schwarz eingemummte Person. Die Glasfront hinter ihr ist verschmiert: Kreuze, Kreise, Kritzeleien. Zum Schutz gegen das Wetter stemmt sie einen Schirm in den Sturm. Einen roten Regenschirm. Wir werden ihm wieder begegnen hier, in der Bilderwelt von Saul Leiter.

Saul Leiter wurde 1923 in Pittsburgh geboren. Seine erste Kamera war ein Geschenk seiner Mutter. Da war er zwölf Jahre alt. Eigentlich hätte er Rabbi werden sollen - der Familientradition folgen. Wollte er aber nicht. Deshalb flüchtete Saul Leiter nach New York, begann dort, in den frühen 40er-Jahren mit Straßenfotografie - und wurde Künstler.

Da steht dieser Kinderwagen vor dem Schaufenster - vor einem echten Kaufmannsladen. Das Baby trägt eine riesige Haube, eine Art Schirmmütze - wurde liebevoll in Decken und Fransen gebettet. Sieht es uns an? An einer Holzleiste über ihm hängen drei abgezogene, weiße Kaninchenfelle; die Ohren zeigen nach unten.

Als Farbfotografien noch als vulgär galten

Die obere Hälfte des Bildes ist weiß. Eine Trennwand? Eine Lieferwagentür? Unten lugen mehrere Beine und Füße hervor. Abgewetzte beigefarbene Schuhe, kniehohe Wollstrümpfe. Auf dem erdigen Boden liegen bunte Papierschnipsel.

Saul Leiter fotografierte bereits ab 1946 auch in Farbe. Heute gilt er deshalb als Pionier. Über die Anfänge sagte er: "Eines Tages kaufte ich eine Rolle Farbfilm. Mir gefiel, was ich sah. Mir gefiel die Farbe, obwohl viele Fotografen auf die Farbe herabblickten und sie für oberflächlich und seicht hielten."

Denn die Farbfotografie wurde hauptsächlich in der Werbung eingesetzt, galt als vulgär, effekthascherisch. Saul Leiter setzt die Farbe sparsam ein. Oft ist es nur ein Gegenstand wie der rote Regenschirm, der Farbe bekennt.

Schirme, Wetterwidrigkeiten und Spiegelungen

Hier taucht der Schirm wieder auf: Der Blick aus dem beinahe zugeschneiten Autofenster, draußen huscht eine schwarze Gestalt mit rotem Schirm vorbei. Dieser Schirm ist eine Art Visitenkarte des Fotografen. Er liebt Schirme und Schuhe, mag auch Wetterwidrigkeiten. Regen und Schnee. Er spielt in seinen Aufnahmen gern und oft mit Spiegelungen - mit beschlagenen, von Kondenswasser überzogenen Scheiben, erschafft verschwommene Bilder. Wetter, Architektur, Menschen - alles verschmilzt miteinander. Grenzverwischung zwischen Abstraktion und Figurativem. Saul Leiter interessiert das Ungesehene, das Unentdeckte. "Ich mag es, wenn man nicht sicher ist, was man sieht", sagte Saul Leiter einmal. "Wenn man nicht weiß, warum der Fotograf ein Bild gemacht hat und wir nicht wissen, warum wir es anschauen, dann entdecken wir plötzlich, dass wir mit dem Sehen beginnen."

Ein perfekter Schnappschuss im East Village

Der Blick geht halb vorbei durch die Windschutzscheibe eines hohen, kastenförmigen Autos aus den 1940er-Jahren. Das Glas hat Sprünge. Doch erkennt man das faltige Gesicht der alten Dame, die vor dem Auto die Straße überquert. Dunkler Hut, Pelzmantel, Lederhandschuhe. Sie blickt dem Betrachter direkt in die Augen. Der perfekte Schnappschuss.

Saul Leiter hat nichts inszeniert. Er ist einfach nur rausgegangen in sein Viertel - in "sein" East Village, in dem er ab 1953 in der immergleichen Wohnung hauste - bis zu seinem Tod 2013. "Ich glaube, dass wunderbare Dinge an bekannten Orten passieren", sagte er. "Wir müssen nicht immer ans andere Ende der Welt rennen." Alles war da, draußen, auf der Straße. Dorf fand Saul Leiter seine Bilder. Durch sie lehrt er uns auch nach seinem Tod neu zu sehen, neu zu entdecken und wertzuschätzen.

Saul Leiter: Retrospektive

von Brigitte  Woischnik, Ingo Taubhorn (Hrg.)
Seitenzahl:
296 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
Leineneinband mit Banderole 22 x 26,4 cm 296 Seiten 155 Farb- und S/W-Abb. Deutsch / Englisch
Verlag:
Kehrer Verlag
Bestellnummer:
978-3-86828-258-
Preis:
49,90 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassikboulevard | 11.08.2019 | 17:40 Uhr

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