Das Philharmonische Orchester Kiel bei einer Konzertaufzeichnung ohne Publikum am 12.+13.03.2021. © NDR Foto: Christiane Irrgang

Work-Life-Balance bei Dirigenten: "Ein totales Fremdwort""

Stand: 06.05.2023 06:00 Uhr

Wie steht es um die Work-Life-Balance im Klassikbetrieb? Durch seine Ankündigung, seine Festanstellung an der Dutch National Opera aufzugeben, hat der Dirigent Lorenzo Viotti eine Debatte angestoßen.

Der Schweizer Dirigent Lorenzo Viotti hat kürzlich angekündigt, seine aktuelle Position an der Dutch National Opera und dem Niederländischen Philharmonischen Orchester nur noch bis zur Saison 2024/25 ausführen zu wollen und danach sein Privatleben zu priorisieren. Der 32-Jährige wolle frei über seine eigene Zeit verfügen können, heißt es dort. Insgesamt erhoffe er sich eine bessere Work-Life-Balance.

Gegenüber dem SRF sagte Viotti, dass die Corona-Pandemie ihm die Augen geöffnet habe, wie wichtig Zeit mit Familie und Freunden sei. Auch der frühe Verlust seines Vaters habe ihn geprägt. Viotti ist ein Star in der Musikbranche; er kann sich seine Aufträge vermutlich mehr oder weniger aussuchen. Aber wie steht es um andere Dirigenten? NDR Kultur hat darüber mit dem Kieler Generalmusikdirektor Benjamin Reiners gesprochen.

Herr Reiners, wie viele Stunden arbeiten Sie denn in der Woche?

Das Philharmonische Orchester Kiel bei einer Konzertaufzeichnung ohne Publikum am 12.+13.03.2021. © NDR Foto: Christiane Irrgang
Hier unterstützt Benjamin Reiners den Solofagottisten Riklef Döhl bei dessen Auftritt.

Benjamin Reiners: Das ist schwer zu beantworten. Die Woche hat sieben Tage, dann arbeitet man am Tag etwa acht Stunden. Also um die 56 Stunden in der Woche. Das ist wirklich immer sehr unterschiedlich, manchmal hat man jeden Abend eine andere Vorstellung oder ein anderes Konzert. Manchmal steckt man nur in Proben. Eigentlich lernt man ja schon immer parallel irgendetwas Neues. Also wie viele Stunden ich wirklich arbeite, finde ich schwer zu beurteilen.

Das heißt also morgens, mittags, abends, nachts, am Wochenende ist bei Ihnen keine Seltenheit?

Reiners: Den Unterschied zwischen Woche und Wochenende gibt es nicht. Das ist am Theater auch immer sehr lustig, wenn jemand ein "schönes Wochenende" wünscht, dann müssen eigentlich alle lachen. Weil wir in der Regel am Wochenende arbeiten.

Wie sehen Sie denn dann das Thema Work-Life-Balance?

Reiners: Für mich spielt das keine große Rolle. Weil es ein großes Glück ist, dass wir Musik als Beruf machen können. Ich habe nie unterschieden, was ist jetzt gerade Freizeit, was ist Hobby, was ist Beruf. Natürlich gibt es auch nervige Geschichten im Beruf, als Generalmusikdirektor habe ich auch viele Sitzungen und viele Termine, die nicht unbedingt etwas mit Musik zu tun haben. Ansonsten ist Work-Life-Balance für mich ein totales Fremdwort. Ich merke, dass das bei der jüngeren Generation meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine größere Rolle spielt - aber ich habe da noch nie drüber nachgedacht. Ich habe eher gedacht, ich will eher etwas weniger unangenehme Arbeit machen - aber nicht weniger musikalische Arbeit.

Sie haben gesagt, dass Sie wenig darüber nachdenken, ob Sie gerade arbeiten oder nicht. Wie sehen dass denn ihre Freunde und Ihre Familie?

Reiners: In der Hinsicht ist es schon kein besonders sozialer Beruf, da man ohnehin immer dann arbeitet, wenn andere frei haben. Bei mir ist es so - wie bei vielen anderen Kolleginnen und Kollegen auch - dass ich mit einer Berufsmusikerin verheiratet bin. Sie ist darüber hinaus noch Freelancerin, da gibt es auch keine klare Trennung zwischen Arbeit und Freizeit. Manchmal gucken wir uns schon ein bisschen selbstkritisch an, wenn wir dann abends noch mit Noten auf dem Sofa sitzen und das nächste Ding vorbereiten. Vielleicht sollten wir ein bisschen mehr auf die Self Care achten, ob es da auch Freiräume gibt, wo die Arbeit gar keine Rolle spielt. Bisher war das Bedürfnis aber noch nicht so riesig, daran etwas zu ändern.

Können Sie als Chef denn darauf eingehen, wenn jemand weniger arbeiten möchte? Gerade hat ja zum Beispiel auch eine NDR Umfrage gezeigt, dass sich viele Menschen im Norden eine Vier-Tage-Woche wünschen würden.

Reiners: Das ist bei uns am Theater natürlich ein bisschen schwierig, weil wir auch dann Konzerte spielen wollen, wenn "normale" Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Freizeit haben, denn dann will man Kultur in Anspruch nehmen. Daher ist es schwierig, auf eine Vier-Tage-Woche zu gehen. Wir wollen unser Kulturangebot weiterhin so reichhaltig wie möglich anbieten. Deswegen sieht der Tarifvertrag für Orchestermusiker auch nur einen Orchester-freien Tag pro Woche vor. Aber man spürt es schon, dass es mehr Anträge auf Teilzeitbeschäftigungen gibt, dass jemand nur 50 oder 75 Prozent arbeiten will. Da müssen wir natürlich drauf eingehen, dann werden die Stellen auf mehrere Personen aufgeteilt.

Muss sich denn etwas tun, damit der Klassikbetrieb ein attraktiver Arbeitgeber bleibt?

Reiners: Ich denke, da hat sich schon vieles entwickelt und wie eben schon angesprochen, wenn jemand die Nachfrage hat, dann wird das bei uns immer ermöglicht. Da ist einiges in Bewegung: im Chor und im Orchester ist das schon seit längerer Zeit möglich und auch bei den solistischen Verträgen werden jetzt Möglichkeiten gesucht. Da hängt die Branche nicht hinterher.

Wie steht es denn um die Situation der Freelancerinnen und Freelancer?

Reiners: Die festangestellten Musikerinnen und Musiker haben natürlich mehr Möglichkeiten, weil sie ein gesichertes Einkommen haben. Bei den Freelancern bekommt man dann schon eher mit, dass sie alles annehmen müssen, weil sie irgendwie ihren Lebensunterhalt sichern müssen. Das zeigen ja auch die aktuellen Meldungen rund ums Thema, mit wie viel Einkommen freischaffende Musikerinnen und Musiker in Deutschland zurechtkommen müssen. Da kann man natürlich keine große Rücksicht nehmen auf die Work-Life-Balance, wenn man auf jeden einzelnen Auftritt angewiesen ist.

Sie werden Ihre Stelle in Kiel als Generalmusikdirektor ja auch aufgeben. Werden Sie das Thema Work-Life-Balance dann eventuell in Angriff nehmen?

Reiners: Ich glaube schon, dass ich das auch für mich aufnehmen werde, bewusster darüber nachzudenken. Und mir auch Freiräume zu schaffen, die auch Raum für Kreativität und neuen Input ermöglichen. Das ist wichtig, dass man als Künstler auch immer wieder Ruhepunkte findet, um sich neu zu hinterfragen, um Dinge noch mal anders zu beleuchten und neue Sachen zu entdecken.

Das Interview führte Anina Pommerenke.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 06.05.2023 | 07:20 Uhr

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