Hinter dem Rücken gekreuzte Finger © picture alliance dpa Foto: Jens Kalaene

Glosse: "Das ist die Wahrheit. Alles andere wäre gelogen"

Stand: 15.11.2023 06:00 Uhr

Ich spreche die Wahrheit. Das ist gelogen. Das wiederum ist natürlich wiederum wahr, also durchaus nicht, was wiederum gelogen sein könnte, falls ich gelogen haben sollte. Und damit herzlich Willkommen im Dickicht der Gespinste.

von Ocke Bandixen

Was ist wahr, was ist Wahrheit? Keine Ahnung, da müsste ich lügen. Kein, Wunder, dass die Lüge allgemein einen ziemlich schlechten Ruf hat. Klar, es gibt so etwas wie die Notlüge, die geht ja noch: Notlage -> Notlüge. Aber sonst ist die Lüge das, was nicht akzeptiert ist. Aber schon seit Anbeginn der Zeiten dabei. Die Schlange gegenüber Eva. Eva gegenüber Adam. Kain gegenüber dem Herrgott: wo ist dein Bruder? Keine Ahnung. Niemand hat die Absicht, die ganze Zeit auf ihn aufzupassen.

Dichtung wahrer als die Wirklichkeit

Der langen und zwischendurch durchaus erfolgreichen Karriere der Lüge - sehen wir mal von der Vertreibung aus dem Paradies ab - haben wir zumindest eine Reihe von wunderbaren Begriffen zu verdanken: Lügenbold, Lügengebäude, Lügengespinst, Lügenmärchen. Hier wird es dann doch recht schnell finster im Unterholz. Als gäbe es auch wahre Märchen. Aber so ist es, denn Dichtung, Erzählen, womöglich die gesamte Kunst, ist Abbild dessen, was wir erleben, sehen, wissen und glauben zu verstehen. Aber ist es damit gelogen? Oder sogar wahrer als die Wirklichkeit? Ganz bestimmt sogar, da lassen wir uns nicht Lügen strafen.

Ocke Bandixen © NDR Foto: Andreas Sperling
NDR Redakteur Ocke Bandixen beleuchtet in seiner Glosse die Wahrheit und die Lüge und die Interpretation dazwischen.

Und dann gibt es da noch ein Wort, wir sprechen es lieber gleich selbst nicht an, dann ist da das hässliche Schmähwort, dass gern uns angeklebt wird, um Journalismus zu verunmöglichen. Tatsachen gefallen nicht? Geben sie sie einfach zurück. Oder schmähen sie den Lieferanten, dann ist er schuld. Was bringt er auch etwas, das keiner gebrauchen kann? Vielleicht sind wir alle schon zu verdorben durch die ständige Möglichkeit, alles und jeden zu kommentieren und zu bewerten. Jede Pizza, jede Ferienwohnung, jede Bestellung. Fünf Sterne dafür mindestens. Oder sagen wir, vier, das ist doch zu viel Käse. Nein, die Wahrheit ist: die Welt ist interpretationsbereit.

Vergangenheit - zurechtgebogen und überbacken

Was sehen sie, wenn sie auf den Zebrastreifen blicken? Die schwarzen oder weißen Streifen. Oder die abstrakte Asphaltspiegelung einer Herde in der Savanne? Der Standpunkt, die Weltsicht, die eigene Verfassung, das Wissen, die Erfahrung – all das lässt uns doch die Welt anders einschätzen. Ist das aber schon gelogen? Nein. Wann fängt sie an? Hast du deine Hände gewaschen? Ja. Wirklich mit Seife gewaschen? Ja. Da zum Beispiel fängt es schätzungsweise bei jedem Kindergartenkind an, und das immer wieder. Kann man nichts machen. Denn wir sind eben: manchmal faul, wankelmütig, schwach. Die Lüge ist der Kurzschluss der Aufklärung. Und manchmal bekommt man einen gewischt. Dazu kommt: Der Mensch biegt sich die Wahrheit besonders gern zurecht, wenn es um die Vergangenheit geht.

Früher war alles ... erzählbarer

Mann, war das schön. Früher. Ist aber Quatsch. Es ist nur einfacher, verständlicher, wenn wir zurückschauen. Wenn sie so wollen, erzählbarer. Der Mensch ist sein eigener Dichter, ganz ungelogen. Und doch beharren wir im Hier und Jetzt auf Tatsachen, Fakten. Verständlich, aber doch eher aussichtslos. Eigentlich rührend. Das ist die Wahrheit. Alles andere wäre gelogen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 15.11.2023 | 16:40 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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