Dialog über Deutschland - Disput von Grass und Walser
Vor 30 Jahren stritten sich die Großschriftsteller auf Einladung von Stephan Lohr über Deutschland und die Einheit, Themen, die heute aktueller wirken denn je.
Zwölf Jahre lang hatten Günter Grass und Martin Walser, einst Weggefährten in der Gruppe 47, kein Wort mehr miteinander gewechselt. Sie waren politisch weit auseinandergedriftet und nahmen höchstens noch in Reden oder Essays Bezug aufeinander - meist äußerst kontrovers. Es ging um so gewichtige Themen wie "Nation" und "Einheit", um Deutschlands Zukunft und das Erbe von Auschwitz.
1994 gelang es Stephan Lohr, die beiden zum ersten Mal wieder von Angesicht zu Angesicht miteinander diskutieren zu lassen. Lohr, der das Gespräch moderierte, verstarb am 25. Mai dieses Jahres. Er hinterlässt zahlreiche Radiohöhepunkte wie diesen und tiefe Spuren im Gedächtnis vieler Menschen.
Stephan Lohr: Martin Walser, vier Jahre nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands, fünf Jahre nach dem Fall der Mauer, wie bewerten Sie thesenhaft heute den Stand der Deutschen Einheit?
Martin Walser: Ich habe nicht täglich das Gefühl, dass das etwas sei, was ich zu bewerten habe, sondern ich habe täglich durch irgendeinen, meist politischen Anlass das Gefühl, dass ich mich immer noch freue, dass das geglückt ist, dass diese blödsinnige Trennung überwunden werden konnte. Diese Freude kann nicht restlos getrübt werden durch die Mühen des allmählichen Zusammenwachsens.
Lohr: Günter Grass, Ihr Resümee?
Günter Grass: Meine anfängliche Freude vom November '89, als die Mauer endlich fiel, ist bald danach geschwunden. Das Geschenk, das uns gemacht wurde - die Leistung lag ja eher bei den Tschechen und bei den Polen, und zum Schluss bei Gorbatschow, als bei uns -, ist verhunzt worden. Es liegt auf dieser möglichen Einheiten und Einigung kein Segen.
Lohr: Welche Rolle spielt dieser Streit, den Sie hier ausfechten, angesichts einer absehbaren Zukunft...?
Walser: Was mich angeht, ich habe da keine Zukunft im Sinn. Ich muss ja jeden Tag mit meinen Empfindungen und Erfahrungen leben. Das heißt also, ich muss auch mit der politischen Wirklichkeit leben, die mir zum größeren Teil serviert wird von einer politischen Verwaltung, die Günter wahnsinnig zerbröseln will. Kohl hat trotz dieser von Lafontaine angemahnten Fehleinschätzungen die geschichtliche Chance genutzt. Denn es war nicht für alle Monate in dem Jahr garantiert, dass mit der Sowjetunion noch verhandelt werden konnte, dass sie die Panzer in den Kasernen lässt. Denn ein paar Monate später hätte er mit jedem einzelnen dieser GUS-Staaten getrennt verhandeln müssen, und dann wäre es viel teurer gewesen als die 15 Milliarden für die Rückquartierung des russischen Militärs, die Waigel mit den Russen ausgehandelt hat. Günter, deswegen finde ich, Kohls Leistung nur aus Partei-Gesichtspunkten, ob er einem sympathisch ist oder nicht, ob er eine deutsche Sprache spricht...
Grass: Du solltest mich nicht auf Partei-Gesichtspunkte reduzieren. Ich tue das doch bei dir auch nicht.
Walser: Nein, es ist auch schwer. Trotzdem habe ich das Gefühl, die Einschätzung von Kohl unterliegt bei dir auch ein bisschen...
Grass: Erfahrung - es ist keine Meinung. Erfahrung mit einer fleischgewordenen Selbstherrlichkeit...
Walser: Du wirfst ihm seine Physis vor.
Grass: Ich habe dir doch auch zugehört, also reden wir doch nicht wie Politiker. Ich revidiere meinen Satz "Da liegt kein Segen drauf", indem ich ein "noch" hinzufüge: Da liegt noch kein Segen drauf.
Walser: Prima!
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