Demonstranten fordern am 16. Juni 1953 in Ostberlin eine Senkung der Arbeitsnorm. © picture-alliance / akg-images
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AUDIO: Gedanken zur Zeit: Der 17. Juni 1953 und unsere Gegenwart (11 Min)

Das ungeliebte Gedenken? Der 17. Juni 1953 und unsere Gegenwart

Stand: 17.06.2023 02:07 Uhr

In seinem Essay fasst der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk den Aufstand vom 17. Juni 1953 zusammen - und formuliert seine eigene Meinung zum Umgang der Deutschen mit dem historischen Datum und den Konsequenzen für unsere Gegenwart.

von Ilko-Sascha Kowalczuk

Zwischen dem 12. und 21. Juni 1953 beteiligten sich etwa eine Million Menschen in über 700 Städten und Gemeinden in der DDR an Protesten, Streiks, Demonstrationen und Kundgebungen gegen das SED-Regime. Es ging um Demokratie, Freiheit und Einheit. Der spontane Aufstand war chancenlos. Die Alliierten hatten kein Interesse daran, acht Jahre nach Kriegsende die Nachkriegsordnung von Jalta und Potsdam zu verändern, am wenigsten der Kreml. Die Sowjetarmee trat entschlossen bei diesem Polizeieinsatz auf, aber anders als in Ungarn drei Jahre später nicht brutal. Die meisten der 55 Todesopfer auf Seiten der Demonstranten kamen durch Querschläger ums Leben. An wenigen Orten schossen die Sowjets, fast immer über die Köpfe der Menschen hinweg.

Und noch etwas unterschied diesen Polizeieinsatz des Militärs von dem Kampfeinsatz drei Jahre später in Ungarn: Dort mussten die Truppen nach ihrem Abzug überhaupt erst wieder ins Land einrollen. In der DDR befanden sie sich mit hunderttausenden Soldaten im Land, es war ihr Land, ihr Besatzungsgebiet. Mit anderen Worten: Der Kreml verteidigte seinen geopolitisch so wichtigen westlichsten Vorposten und niemand nahm daran Anstoß. Nicht einmal die Aufständischen, die überall Bastionen der SED-Herrschaft angriffen und belagerten, aber nirgends die Siegermacht und ihre Armee.

Kampf um die Deutung des Aufstands

Von diesem Aufstand war der Westen genauso überrascht worden wie der Osten. Es gab keine westlichen Einmischungsversuche. Auch der Rundfunk im amerikanischen Sektor Berlin, der RIAS, übernahm keine solche Rolle. Er berichtete, ja, das ist die Aufgabe von Medien. Und was konnten die westlichen Medien dafür, dass die in der DDR dieser Aufgabe nicht nachkamen, weil sie gleichgeschaltet waren?

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Demonstranten werfen beim Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 in Berlin mit Steinen nach russischen Panzern. © picture alliance/dpa

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Unmittelbar mit Ausbruch des 17. Juni begann ein Kampf um seine Deutung. In der DDR blieb er stets der "faschistische Putschversuch", die angeblich vom Westen aus inszenierte Konterrevolution. Das Märchen glauben bis heute nicht so wenige, in ganz Deutschland. In der Bundesrepublik ist er 1953 augenblicklich zum Tag der Deutschen Einheit ausgerufen worden. Das war er auch. Und er war ein Freiheitstag. Erst mit dem Mauerbau 1961, als das größte europäische Freiluftgefängnis im Nachkriegseuropa entstand, begann die Umdeutung. Nun setzte sich im Zuge der neuen Ost- und Deutschlandpolitik immer stärker die Auffassung durch, die DDR sei eine moderne Industriegesellschaft eigenen Typs. Von der Diktatur war immer weniger die Rede. Nun wurde der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 immer stärker auf einen Arbeiteraufstand, auf einen sozialpolitischen Konfliktfall reduziert, der auch nicht mehr flächendeckend ausgebrochen war, sondern immer mehr als auf Ost-Berlin beschränkt dargestellt wurde. Das hatte auch damit zu tun, dass es fast nur Fotos sowie Ton- und Filmaufnahmen aus Ost-Berlin gab. Aber der Hauptgrund war ein politischer: Die Zeichen standen auf Reform und nicht, wie der Zeithistoriker Arnulf Baring, wirkmächtigster Interpret des Aufstands in der Bundesrepublik, betonte, auf Revolution.

Der 17. Juni: Eine sozialpolitische Errungenschaft

Die Debatten um den ungeliebten Feiertag "17. Juni", um seine Abschaffung, ebbten bis 1989 nicht mehr ab. Vor allem die Gewerkschaften sträubten sich erfolgreich, ihn aufzugeben - er galt als eine sozialpolitische Errungenschaft.

Nach der ostdeutschen Revolution von 1989 ist der Feiertag 17. Juni umgehend zugunsten des technokratischen und blutarmen Feiertags am 3. Oktober abgeschafft worden. Hier reichten sich in guter alter Manier Männer die Hand - Westmänner verhandelten mit sich selbst und hatten nicht einmal zur Staffage am 3. Oktober 1990 Ostmänner auf der Bühne am Reichstag dabei -, um zu besiegeln, was tatsächlich eine gesellschaftliche Bewegung erreicht hatte: Einheit in Freiheit. Doch zu Deutschland passt der 3. Oktober womöglich besser als Tage der Bewegung wie der 17. Juni, der 9. Oktober oder der 18. März.

Kaum Interesse an der gescheiterten Revolution

In der Gesellschaft und im gesellschaftlichen Geschichtsbewusstsein spielt der 17. Juni abseits halbwegs runder Jahrestage keine Rolle. Das Wissen über diese epochalen Ereignisse ist selbst in Historiker*innenkreisen mit "bescheiden" freundlich umschrieben. Woran das liegt?

Ich weiß auch nicht, warum es für diese gescheiterte Revolution so wenig Interesse gibt. Vermutlich sind die Gründe banal: Für die Alten ist der Tag noch immer durch die geschichtspolitischen Instrumentalisierungen im Osten wie im Westen belastet, er ist mit Emotionen verbunden, die mit dem historischen Ereignis wenig zu tun haben. Das ist nicht selten so, wenn die Vergangenheit Thema wird. Denn es geht dabei oft gar nicht so sehr um die zur Geschichte gemachte Vergangenheit, sondern um eine Gegenwart, die ihre Fragen an die Vergangenheit stellt.

Nicht nur 1953, auch 1989 und der gesamte Umbruch in Osteuropa fristen außerhalb von Sonntagsreden ein Schattendasein. Kann unser postheroisches Zeitalter, in dem jede noch so dämliche Meinung wie ein harter Fakt verhandelt wird, womöglich nichts anfangen mit einem uneigennützigen, risikoreichen, das eigene Leben als Einsatz einbringenden Pfand im Kampf für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit? Eine Gesellschaft, in der Hedonismus mehr zählt als Leistung und Engagement, in der die Work-Life-Balance über allem steht und die materielle Sattheit ganzer nachwachsender Generationen nichts mehr mit dem Existenzkampf "letzter Generationen" einst und heute anfangen kann - eine solche Gesellschaft muss doch fast zwangsläufig irritiert sein und  sich in der eigenen Lebensweise angegriffen fühlen, wenn die Geschichte vorführt, wie Freiheit, materielle Übersattheit, Demokratie einst erkämpft, erstritten worden sind. Oder?

Und ist es dann nicht nur ein kleiner Schritt von der Ignoranz großer Teile der westeuropäischen Gesellschaften gegenüber dem Freiheitskampf gegen den Kommunismus - hin zur Ignoranz gegenüber dem Freiheitskampf der ukrainischen Gesellschaft? Und ist es nicht auch das gleiche Phänomen, wenn der Kampf um globale Gerechtigkeit, gegen Klimaerwärmung oder Rassismus, Sexismus, Extremismus in signifikanten Teilen der Gesellschaft auf Gähnen, sogar auf Ablehnung stößt - genau dann, wenn die Einzelnen irgendwie auch mal was tun sollen. Und sei es nur, sich in Geduld zu üben?

Der Kampf für Freiheit und Demokratie muss gestärkt werden

Wenn in Ostdeutschland fast die Hälfte der Gesellschaft es für denkbar hält, die AfD zu wählen und es aktuell jeder Dritte zu tun beabsichtigt; wenn auch im Westen aktuell 15 Prozent so ihr Kreuz machen wollen und nochmals so viele dies für möglich erachten, dann hilft es nicht, weiterhin so zu tun, als könnte man alle für das Projekt "Demokratie" und "Freiheit" zurückzugewinnen. Nein, in jeder Gesellschaft gibt es etwa 20 bis 25 Prozent, die man für das politische System nicht begeistern kann - egal womit.

Übersicht
Eine Reihe von Uhren steht in einem leeren Fabrikgebäude. Eine zeigerlose Uhr ist frontal zu sehen. © Roberto Agagliate / photocase.de Foto: Roberto Agagliate

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Vielleicht sollte also damit begonnen werden zu fragen, wie jene, die Demokratie und Freiheit verteidigen und ausbauen wollen, unterstützt und gestärkt werden könnten:

Wäre nicht zu diskutieren, die Anzahl der möglichen Legislaturperioden für Wahlämter auf zwei zu begrenzen, schon damit niemand in die Verlegenheit kommt, etwas nur zu tun, um wiedergewählt zu werden? Oder könnte man nicht mittels einer lebendigen Gesellschaftsaussprache darüber, in welch einer Verfassung wir leben wollen, die Partizipationsmöglichkeiten erweitern, da doch alle wissen: Nichts stärkt die Demokratie mehr als aktives Mittun in Entscheidungsprozessen - statt immer nur am Biertisch alles besser zu wissen?

Kommunismusgeschichte: Es fehlt nicht an Wissen

Als Historiker erscheint mir dabei das Geschichtsbewusstsein von eminenter Bedeutung. Wissen darüber, wie der Weg bis hierher aussah, welche Beschwernisse zu überwinden, welche Verbrechen zu bewältigen und welche Kämpfe zu führen waren, verhindert vielleicht nicht automatisch das Abgleiten in Extremismus und Demokratiegeringschätzung, könnte aber argumentativ helfen.

Wenn ich gerade in diesen Tagen wieder von so manchen Spitzenpolitiker*innen, aber auch anderen, höre, wir wüssten noch zu wenig über den Kommunismus, die DDR, den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, so entgegne ich: Nein, nicht "wir", sondern "ihr". Es fehlt nicht an Wissen. Es liegt vor, wissenschaftlich abgesichert, für die politische Bildung, den Schulunterricht oder die mediale Verarbeitung sachgerecht zubereitet. Aber die meisten künftigen Geschichtslehrer*innen verlassen heute eine deutsche Universität, ohne sich annähernd sachgerecht mit der DDR-, mit der Kommunismusgeschichte befasst zu haben. Ohne es überhaupt gekonnt zu haben: Es gibt keinen einzigen Lehrstuhl für Kommunismusgeschichte. Dabei müsste es an jeder deutschen Universität, wo Geschichtslehrer ausgebildet werden, einen solchen geben. Was sollen die Lehrer*innen ihren Schüler*innen unter diesen Umständen erzählen?

Ich habe mich seit über 30 Jahren mit dem Volksaufstand befasst, mehrere Bücher dazu veröffentlicht, unzählige öffentliche Aktivitäten dazu entfaltet. Nein, ich freue mich in diesem Jahr nicht über die Aufmerksamkeit, weil ich weiß, dass sie morgen schon wieder verflogen sein wird. Noch bin ich wütend darüber. Ich fürchte, im nächsten Jahr wird es mir auch egal sein.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 17.06.2023 | 13:00 Uhr

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