Analphabetismus im Norden: "Teilversagen in unserem Schulwesen"
Ein großer Teil der Menschen, die als Erwachsene Alphabetisierungskurse machen, haben einen Schulabschluss. Wie kann das sein und was muss sich ändern? Fragen an den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbands Heinz-Peter Meidinger.
Herr Meidinger, wie kann es sein, dass Menschen einen Schulabschluss machen, aber trotzdem nicht richtig schreiben und lesen können?
Heinz-Peter Meidinger: Das ist ein Zeichen für ein Teilversagen in unserem Schulwesen. Die Erkenntnis haben wir schon länger, dass ein Teil der Schülerinnen und Schüler nach Abschluss der Grundschule, aber auch ein Teil der 15-Jährigen, dermaßen schlechte Lesefähigkeiten hat, dass sie grundsätzlich in ihrem späteren Leben keine Chance haben, einen passenden Beruf zu finden oder am politischen oder kulturellen Leben teilzunehmen. Das sind rund 20 Prozent.
Bei der PISA-Studie spricht man von Kindern und Jugendlichen, die die Kompetenzstufe 1 maximal erreichen oder auch darunter bleiben. Insofern ist die Erkenntnis nicht neu, dass es Menschen gibt, die auch nach abgeschlossener Schule im künftigen Leben große Probleme haben werden. Und wenn sie sich nach der Schule auch noch weiter von der Lektüre von Texten entfernen, oder in einem Beruf sind, wo sie das kaum nutzen müssen, dann werden sie tatsächlich zu dauerhaft funktionalen Analphabeten.
Aber woran liegt es, dass diese Personen in der Schule einfach so durchrutschen? Waren die Lehrkräfte bisher einfach nicht sensibilisiert genug?
Meidinger: Ich glaube, es wäre zu einfach, das den Lehrkräften in erster Linie anzulasten. Das Grundproblem ist, dass wir bereits bei Schulbeginn mit extrem hohen Sprachdefiziten bei den Kindern zu tun haben. Da geht es gar nicht um Lesefähigkeit - die soll ja erst in der Schule erworben werden -, sondern um eine Unfähigkeit, sich sprachlich differenziert auszudrücken, einen Wortschatz zu haben, der größer ist als hundert Worte. Das Schulsystem ist dann kaum in der Lage, diese Unterschiede auszugleichen.
Der Hauptansatzpunkt sollte sein, schon vorschulisch sicherzustellen, dass hier eine Ausgangslage da ist, die die schulische Bildung überhaupt erst ermöglicht. Man kann nicht lesen lernen, wenn man nicht sprechen kann. Und da meine ich gar nicht nur die Kinder mit Migrationsgeschichte, sondern auch viele deutsche Kinder. Deswegen war der Lehrerverband immer dafür, dass man frühzeitig, also bei den Vierjährigen, Sprachstandstests macht, um Sprachdefizite zu erkennen und bei den 20 bis 30 Prozent, die große Sprachdefizite haben, sofort mit einer vorschulischen Förderung zu beginnen. Diese Sprachstandstests werden zwar teilweise gemacht, aber bei den anschließenden Fördermaßnahmen hapert es gewaltig. Außerdem fehlt das Personal.
Merken Sie, dass in den Familien allgemein weniger geschrieben und gelesen wird?
Meidinger: Wir haben verschiedene Entwicklungen, die sich überlagern. Wir haben tatsächlich eine immer größer werdende Gruppe mit Migrationsgeschichte, wo zu Hause nach wie vor nicht Deutsch gesprochen wird, wo die Eltern die Kinder beim deutschen Spracherwerb nicht fördern können. Das hatten wir früher in dem Ausmaß nicht.
Wir haben auch eine Tendenz dazu, dass Kinder und Jugendliche kaum mehr lesen. Schon früher gab es Phasen, in denen Jugendliche nicht mehr viel gelesen haben, etwa in der Pubertät. Aber heute wird ein Teil überhaupt nicht mehr zu Lesern - insbesondere haben wir das Phänomen besonders stark bei Jungen, die sich ihn ihrer Freizeit lieber mit Computerspielen beschäftigen. Dieses Sich-Entfernen vom Lesen hat auch viel mit den Elternhäusern zu tun.
Der dritte Punkt ist die Corona-Pandemie, wo wir gesehen haben, dass ausgerechnet das Schülerklientel, das besonders intensiven persönlichen Kontakt in der Schule bräuchte, weil es zu Hause kaum Anregungen hat, jetzt nochmal zusätzlich abgehängt worden ist.
Viele Klassen sind durch ukrainische Schülerinnen und Schüler gerade größer geworden. Macht es das auch noch mal für die Lehrerinnen und Lehrer schwieriger, alle individuell zu fördern?
Meidinger: Das Grundproblem in Deutschland ist der Lehrermangel, insbesondere an Grundschulen. Es könnte sein, dass sich das in ein paar Jahren entspannt, aber derzeit sind wir in einer massiven Lehrkräftemangel-Phase. Das ist zwar eine der wichtigsten Herausforderungen, denn ohne Lesefähigkeit keine Bildungsfähigkeit und letztendlich auch keine Möglichkeit, in diesem Staat überhaupt zu partizipieren.
Aber es gibt auch noch andere Herausforderungen im Schulsystem, die unter den Bedingungen des Lehrermangels kaum zu stemmen sind: Inklusion ist eine riesige Herausforderung, Integration, aber auch individuelle Förderung und Digitalisierung, die ja auch viele Kräfte in der Schule bindet. Diese Gleichzeitigkeit enormer zusätzlicher Herausforderungen bei herrschendem Lehrermangel - das ist das Grundproblem, das wir derzeit haben.
Was kann man denn ganz akut tun, um diesem Riesenberg von Problemen zu begegnen?
Meidinger: Es wäre schon mal ganz wichtig, dass sich Schule auf die Basics konzentriert. Das Grundlegende ist, dass wir Kindern an der Grundschule das Lesen, Rechnen und Schreiben beibringen. Das muss jetzt verstärkt im Vordergrund stehen. Viele Dinge, wo wir gedacht haben, dass man sie auch nebenbei machen könnte, müssen zurückstehen.
Das andere ist, dass man die Ressourcen, die man hat, bündelt, insbesondere auf die Gruppe der Kinder und Jugendlichen, die drohen, abgehängt zu werden, also diese 20 Prozent. Wir müssen auch vorschulisch genauer hinschauen. Natürlich muss der Lehrkräfteberuf wieder attraktiver werden, wir müssen mehr junge Leute dafür gewinnen. Es gibt hausgemachte Fehler für den Lehrermangel, dass beispielsweise Lehramt-Studienplätze massiv abgebaut worden sind. Das wird noch dauern. Aber in der Zwischenzeit ist Konzentration auf das Wesentliche wichtig, um diese dauerhafte Überforderung der Schule zu verhindern.
Das Interview führte Jan Wiedemann.
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