100.000 Menschen in MV können nicht richtig lesen und schreiben
Tausende Erwachsene in MV können nicht richtig lesen und schreiben. Wer das nachholt, erlebt eine ganz persönliche Erfolgsgeschichte und startet in ein neues Leben. Hilfsangebote und Kurse im Nordosten helfen dabei.
Petra Rath aus Rostock war über 50 Jahre alt, als sie Lesen und Schreiben gelernt hat. Das sollte jeder versuchen, rät sie: "Ich möchte Leuten Mut machen, dass sie raus aus sich kommen und ein anderes Leben gestalten können." In Mecklenburg-Vorpommern gelten rund 100.000 Menschen als gering literalisiert.
Wie Petra Rath ging es auch Gerhard. Er besucht einmal in der Woche das Mehrgenerationenhaus in Güstrow. Weil er anonym bleiben möchte, nennen wir nur seinen Vornamen. Gerhard lernt seit anderthalb Jahren richtig lesen und schreiben. "Das hat mich ganz schön Überwindung gekostet", erzählt der 62 Jahre alte Witwer. Aber nach dem Tod seiner Frau ging es nicht mehr. Sie war in das Geheimnis des ehemaligen Landmaschinenschlossers eingeweiht und wusste, dass er da große Probleme hatte.
Millionen Menschen sind betroffen
Bundesweit gelten rund 6,2 Millionen Menschen als gering literalisiert. So nennt sich das in der Fachsprache. Sie können nicht oder nicht richtig lesen und schreiben. Sie haben im Alltag Probleme, zum Beispiel längere Sätze aus der Post von Ämtern zu verstehen, medizinische Unterlagen auszufüllen oder einen Kontoauszug richtig zu lesen. Das hat im Jahr 2018 die "LEO-Studie, Leben mit geringer Literalität" der Hamburger Universität ergeben. LEO steht hierbei für Level One, für Stufe eins.
Familienprobleme und mangelnde Schulbildung sind die Gründe
Petra Rath hat als Kind einige Jahre im Heim gelebt. Ihre eigene Mutter hat das Lesen und Schreiben nie gelernt. Und Gerhard ging nur bis zur fünften Klasse in eine Schule. Schulbildung ist ein Punkt. "Je länger jemand zur Schule gegangen ist, desto geringer ist das Problem mit mangelnder Lese- und Schreibkompetenz als Erwachsener", sagt Klaus Buddeberg von der Universität Hamburg, der vor vier Jahren an der LEO-Studie mitgearbeitet hat. Deshalb sei es so wichtig, was in den Bundesländern unternommen wird, um den hohen Anteil von Schulabbrechern in den Griff zu bekommen, meint Buddeberg weiter. Elementar sei auch der familiäre Hintergrund. Kinder aus einem bildungsfernen Elternhaus haben in Deutschland schlechtere Startbedingungen.
Wer im Lesen und Schreiben Nachholbedarf hat, lebt aber nicht ohne Einkommen ausgeschlossen von allem. Mehr als 50 Prozent der Menschen, die sich an der LEO-Studie beteiligten, haben Arbeit, Familie, Freunde und Hobbys.
Volkshochschulen bieten Schreiblern-Kurse an
Auch in den Mehrgenerationenhäusern finden Betroffene Angebote, um das Lesen und Schreiben zu lernen. So sucht man in Güstrow neue Teilnehmende. Diese Angebote haben wenig mit Schule im herkömmlichen Sinne zu tun. Das soll auch so sein. "Viele Leute berichteten, sie hätten Schwierigkeiten in der Schule gehabt und könnten sich eine Rückkehr auf die Schulbank nicht vorstellen", so Buddeberg. Die Gruppen sind sehr klein, die Betreuung ist geduldig, rücksichtsvoll und individuell abgestimmt auf die Interessen der Teilnehmenden.
Ratschläge am bundesweiten Servicetelefon
Hilfe gibt es auch beim ALFA-Telefon. Das ist seit vielen Jahren ein Projekt des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung. Der Anruf ist kostenfrei. Niemand muss seinen Namen verraten. Eine Ansprechpartnerin dort ist Juliane Averdung. Mit viel Fingerspitzengefühl berät sie freundlich zugewandt Mitwissende und Anrufende unter anderem darüber, wo es Kurse gibt oder wie man am besten eine Person darauf anspricht, wenn man glaubt, dass sie Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat. Mitunter gibt es bei ihrer Arbeit am ALFA-Telefon auch emotionale Momente. "Es ist schon vorgekommen, dass Personen total aufgelöst waren, weil ich dann in diesem Fall die erste Instanz bin, bei der die Person das erste Mal drüber spricht, dass sie wirklich nicht ausreichend lesen und schreiben kann und das ist dann schon bewegend für einen selbst.", erzählt Averdung im Interview mit NDR 1 Radio MV.
Jeder kann sich ein anderes Leben gestalten
Der Weg, richtig Lesen und Schreiben zu lernen, ist lang. Aber es lohnt sich, meint die Expertin vom ALFA-Telefon. "Sie glauben gar nicht, für wie viele es eine so große Bedeutung ist, allein zum Fahrkartenautomaten zu gehen, sich ein Ticket zu kaufen und dann von A nach B zu fahren, weil sie allein die Haltestellen lesen können." Noch heute kommt Petra Rath einmal in der Woche ins Rostocker Mehrgenerationenhaus, um Lesen und Schreiben zu üben. Sie freut sich, dass sie nun ihr eigener Herr ist und sie traut sich, öffentlich darüber zu reden. Denn, das sagt sie aufgeregt ins NDR Mikrofon: "Ich möchte Leuten Mut machen, dass sie raus aus sich kommen und ein anderes Leben gestalten können."
