"Wir sind doch keine Statisten!"

Stand: 19.11.2022 10:42 Uhr

Am 23. November 1992 setzten Neonazis in Mölln Wohnungen türkischstämmiger Familien in Brand. Die Menschen bekundeten Solidarität mit den Opfern und halfen. Später kritisieren Überlebende die Gedenkkultur.

von Corinna Below

Ibrahim Arslan war sieben Jahre alt, als zwei Neonazis in Mölln in der Nacht auf den 23. November 1992 erst ein Haus in der Ratzeburg Straße in Brand setzen und wenig später das Wohnhaus seiner Familie in der Mühlenstraße. 42 Menschen türkischer Herkunft sind insgesamt betroffen.

Ein Anschlag mit Folgen

Arslan nennt sich "Opfer und Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992". Sein Leben wird bis heute von dieser Nacht bestimmt. Er sagt, er sei zum Überleben verurteilt. Drei Menschen überlebten diese Nacht nicht: seine zehn Jahre alte Schwester Yeliz, seine 14 Jahre alte Kusine Ayse und seine Großmutter Bahide. Ibrahims Mutter und acht andere wurden schwer verletzt. Ihn selbst hatte seine Oma in nasse Tücher gewickelt und in der Küche in "Sicherheit" gebracht, bevor sie bei dem Versuch verbrannte, die anderen Kinder zu retten. Ibrahim erinnert sich an brennende Töpfe. Bis heute hat er immer wieder er Flashbacks. Außerdem leidet er an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Wenn er an den Anschlag denkt, zuckt seine linke Gesichtshälfte und er muss trocken Husten.

Große Solidarität mit den Opfern

Der Anschlag machte weltweit Schlagzeilen. Die Möllnerinnen und Möllner standen unter Schock. Hier applaudierte, anders als in Rostock-Lichtenhagen, niemand. Noch am gleichen Tag fand ein Schweigemarsch statt. 2.500 Menschen nahmen daran teil. Viele weitere folgten, auch bundesweit. Das war neu. Die Menschen bekundeten ihre Solidarität mit den Opfern und halfen.

Noch im gleichen Jahr gründeten Möllnerinnen  und Möllner den Verein "Miteinander leben". Ibrahims Vater half damals mit. Der Verein fördert seitdem das Miteinander durch viele Projekte. Sein Anspruch bis heute: Das darf nie wieder passieren!

"Wir wollen einbezogen werden!"

Aktuell zeigt der Verein die Ausstellung "Mölln nach Mölln" im historischen Rathaus. Eine Fotoreportage, die 1994 schon einmal zu sehen war. Ibrahim Arslan hat nur zufällig von der Ausstellung erfahren. Gefragt wurde seine Familie nicht, obwohl es auch um sie geht. Das empört ihn sehr. Schon oft hat seine Familie erfahren müssen, dass sie als Betroffene nicht mit einbezogen werden.

Weitere Informationen
Ibrahim Arslan © Sabrina Richmann

Brandanschlag von Mölln: "Es ist nichts Abgeschlossenes"

Der Überlebende İbrahim Arslan erinnert an die Tat vor 30 Jahren und an die gesellschaftliche Pflicht, der Opfer zu gedenken. mehr

Der stellvertretende Vorsitzende von Miteinander Leben e.V. Jörg Rüdiger Geschke versteht Ibrahim Arslans Kritik nicht. Bei den Planungen zur aktuellen Ausstellung wären sie davon ausgegangen, dass es doch im Sinne der Familie Arslan sein müsse, dass die Bilder wieder zu sehen sind. Ein Missverständnis? Ibrahim Arslan fühlt sich ignoriert. Er und die anderen würden nur als Statisten betrachtet. Die, die sich in Mölln seit dem Anschlag engagieren, würden ihnen nicht auf Augenhöhe begegnen. Es gehe darum, einbezogen zu werden, damit die Perspektive der Betroffenen sichtbar werden kann. Er will nicht, dass andere seine Geschichte erzählen.

800 Solidaritäsbriefe landen unbeantwortet im Archiv

Kritik erhebt Ibrahim Arslan auch am Verhalten der Stadtverwaltung. Nach dem Anschlag schickten Menschen aus ganz Deutschland Briefe an die Brandopfer, um ihr Mitgefühl auszudrücken. Aber nur ein paar hundert erreichten die Betroffenen. Es kamen aber noch viel mehr. Etwa 800 Briefe wurden offenbar nie an die Adressaten weitergeleitet. In einem Protokoll der Stadt von 1993 heißt es dazu: "In der Teestube in der Seestraße sind hunderte von Briefen eingegangen, die nicht beantwortet wurden. Diese Briefe wurden dem Stadtarchiv übergeben." Mittlerweile haben Arslans alle Briefe erhalten - 27 Jahre nach ihrem Eintreffen.
Zur Vergangenheit will Bürgermeister Ingo Schäper nichts sagen. Er ist erst seit März im Amt. Was damals schiefgelaufen ist, will er untersuchen lassen.

Eklat bei Gedenkfeier 2012

Bei der Gedenkfeier zum 20 Jahrestag 2012 kam es zwischen der Stadt und der Familie Arslan zum Bruch. Landespolitiker wollten die Veranstaltung verlassen, bevor die Betroffenen gesprochen hatten. Arslans waren empört und hielten die Politiker zurück. Der damalige Bürgermeister sprach im Anschluss von Respektlosigkeit.
Seitdem betreibt Ibrahim Arslan seine eigene Form des Gedenkens, geht in Schulen, macht Führungen in Mölln. Und seitdem gibt es die "Möllner Rede im Exil". In diesem Jahr findet sie auf Kampnagel in Hamburg statt. Und wie jedes Jahr, hat Ibrahim Arslan auch in diesem Jahr den Bürgermeister eingeladen. Ingo Schäper plant zu kommen. "Das ist großartig und könnte ein Neuanfang sein", sagt Arslan, denn er wünscht sich sehr, dass er die "Möllner Rede" schon im nächsten Jahr nicht mehr im Exil, sondern wieder in Mölln wird halten können.

Weitere Informationen
Feuerwehrleute 1992 am Ort des Brandanschlags in Mölln © dpa Foto: Rolf Rick

1993: Attentäter des Brandanschlags von Mölln verurteilt

Drei Türkinnen starben bei dem rassistischen Anschlag in Mölln 1992. Am 8. Dezember 1993 wurden die zwei Täter zu Haftstrafen verurteilt. mehr

Broschüren mit dem Titel "30 Jahre Anschlag Mölln" liegen auf einem Tisch. © Screenshot
1 Min

Mölln: Rassistische Brandanschläge jähren sich zum 30. Mal

Drei Menschen starben 1992 in den Flammen. Die Türkische Gemeinde lädt zum Gedenken an die Opfer . 1 Min

Dampflokomotive aus dem 19. Jahrhundert. © dpa - report Foto: Votava

Alle Zeitreise-Beiträge sortiert nach Datum

Hier finden Sie alle Zeitreisen des Schleswig-Holstein Magazins. mehr

Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 20.11.2022 | 19:30 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Terrorismus

Rechtsextremismus

Nachrichten aus Schleswig-Holstein

Ein Schlagloch auf einer Straße. © Screenshot

Schlaglöcher in SH: Richter spricht von "Land der Buckelpisten"

Die Zahl der Schadensersatzklagen hat sich laut Oberlandesgericht Schleswig in den vergangenen Jahren mindestens verdoppelt. mehr

Videos