Warum die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt seit Jahren stagniert
Heute ist der europäische Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Ein Bereich, in dem diese hartnäckig hinter vorgegebenen Zielen bleibt, ist die Inklusion am Arbeitsplatz - auch in Schleswig-Holstein.
In einem ruhigen Raum abseits des Gewusels der großen Produktionshalle ist der Arbeitsplatz von Tobias Lütje. Oft arbeitet er hier ganz alleine. Heute ist ein anderer Kollege da. Auch er kann besser arbeiten, wenn um ihn herum wenig los ist. Lütje montiert Brenner für spezielle Heizsysteme. Dabei hat der 31-Jährige eigentlich zwei abgeschlossene Berufsausbildungen in ganz anderen Bereichen. Lütje ist Autist. In seinem ersten Beruf als Verkäufer fiel ihm der Kundenkontakt oft schwer, in seinem zweiten Beruf als Maler setzten das Arbeitspensum und die harten Deadlines ihn unter Druck. Beide Male endete es in einer Kündigung.
"Ich habe tatsächlich immer das Gefühl gehabt, dass die wussten, ich bin anders, dass ich eine Einschränkung habe. Aber es wurde nicht viel Rücksicht darauf genommen." Tobias Lütje
Unterrepräsentiert trotz Qualifikation
Lütjes Beispiel steht für viele. Laut Bundesagentur für Arbeit waren im April 2025 rund 5.020 Menschen mit Behinderung in Schleswig-Holstein arbeitslos - mehr als die Hälfte von ihnen hat einen Berufsabschluss. Bundesweit liegt die Arbeitslosenquote unter schwerbehinderten Menschen mit rund 11 Prozent fast doppelt so hoch wie die allgemeine Quote von 5,7 Prozent.
Mehrheit der Unternehmen zahlt Strafabgabe
Unternehmen ab 20 Mitarbeitenden sind verpflichtet, fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Wird diese Quote nicht erfüllt, wird eine gestaffelte Ausgleichsabgabe fällig. Diese liegt, je nachdem wie stark das Unternehmen die Quote unterschreitet, zwischen 140 und 360 Euro monatlich pro nicht besetztem Pflichtplatz. Die aktuellsten Zahlen zeigen: 2023 zahlten fast 60 Prozent der Unternehmen in Schleswig-Holstein diese Abgabe.
Trotz vieler politischer Bemühungen hat sich die Beschäftigungssituation kaum verändert. In Schleswig-Holstein ist der Anteil der Unternehmen, die die Beschäftigungsquote erfüllen, seit über zehn Jahren praktisch unverändert.
Unwissen bei Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern
Nicole Kinias ist Geschäftsführerin des Inklusionsunternehmens Scheer Heizsysteme in Wöhrden (Kreis Dithmarschen), das Tobias Lütje beschäftigt. Mehr als ein Drittel der Belegschaft in Verwaltung und Produktion hat eine anerkannte Behinderung. Für Kinias sind die Mitarbeitenden mit Schwerbehinderung längst ein Gewinn - fachlich wie menschlich. Zwar habe sie anfangs selbst Bedenken gehabt, etwa in Bezug auf mögliche höhere Ausfallzeiten, diese hätten sich aber nicht bestätigt.
Auch die häufige Befürchtung rund um den Kündigungsschutz hält sie für ein Missverständnis: "Man braucht wie bei jedem anderen Mitarbeitenden einen triftigen Grund - es ist nur eine zusätzliche Stelle eingebunden." Ihr Unternehmen agiere wie jedes andere mit dem Ziel wirtschaftlich zu arbeiten. Die Zuschüsse vom Inklusionsamt seien dabei eine Stütze, aber nicht existenzsichernd.
"Es geht um unterbewusste Einstellungen"

Prof. Dr. Hans Klaus, Ökonom und langjähriger Dozent an der FH Kiel, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Inklusion in der Arbeitswelt. Er beobachtet: Oft scheitere Inklusion nicht an objektiven Hürden, sondern an unterbewussten Einstellungen - bei Führungskräften wie im Kollegium. Diese stünden oft im Widerspruch dazu, dass meist gleichzeitig der grundsätzliche Wunsch nach mehr Inklusion da sei.
"Wenn es aber zum Stechen kommt, wenn es um die Frage geht, will ich jemanden mit einer Behinderung einstellen, dann halten sich Unternehmen überproportional zurück." Prof. Dr. Hans Klaus
Besonders auffällig sei dies in Branchen mit starkem Kundenkontakt. Dort schwinge nicht nur die Angst vor den internen Auswirkungen, sondern auch die vor der Reaktion der Kunden mit. In Workshops mit Unternehmern rät Klaus deshalb, sich bewusst mit den eigenen Vorbehalten auseinanderzusetzen und konkrete, erreichbare Ziele zu formulieren.
Es fehlen die Bewerber
Viele Unternehmer sehen das eigentliche Problem allerdings an anderer Stelle. Nicht zuletzt der Fachkräftemangel habe bereits geholfen Vorbehalte zu überwinden, so der Unternehmensverband Nord. "Wir bekommen die Rückmeldung, dass es häufig gar nicht möglich ist, schwerbehinderte Menschen einzustellen, weil es keine Bewerbungen gibt oder auch in den Bewerbungen nicht ersichtlich ist, ob jemand schwerbehindert ist oder nicht", erklärt der Sprecher des Verbandes, Sebastian Schulze.
Nach Einschätzung der Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung in Schleswig-Holstein, Michaela Pries, bestehen viele Hürden bereits im Bewerbungsprozess - etwa durch unzugängliche Stellenanzeigen, fehlende Barrierefreiheit oder diskriminierende Erfahrungen in früheren Bewerbungsverfahren. "Es fehlt häufig schon in diesem Verfahren die Sensibilität so auf die Bewerberinnen und Bewerber einzugehen, dass sie sich ermutigt fühlen, die Bewerbung aufrechtzuerhalten", so Pries. Inklusion müsse deshalb nicht nur gesetzlich eingefordert, sondern auch aktiv begleitet werden.
Ankommen im Job - trotz Hürden
Auch Nicole Kinias, Geschäftsführerin bei Scheer Heizsysteme, kennt das Problem fehlender Bewerbungen: "Wir haben offene Stellen und wir bekommen einfach keine Bewerbungen - weder mit noch ohne Schwerbehinderung." Tobias Lütje ist inzwischen seit drei Jahren im Unternehmen. Er sagt, er hat das Gefühl angekommen zu sein - ohne Angst vor Kündigung oder davor nicht genug zu sein.
"Das bedeutet mir tatsächlich sehr viel. Das ist praktisch der erste Job, wo ich das Gefühl habe, dass ich angekommen bin, dass ich wirklich auch mal längerfristig für mein eigenes Leben planen kann." Tobias Lütje
Die klaren Abläufe, die ruhige Arbeitsumgebung, die offene Kommunikation: All das passt für ihn. Und auch das Unternehmen profitiert - von einem Mitarbeiter, der seine Stärken kennt und einbringt.
