Mobilitätstraining in Bus und Bahn für Menschen mit Beeinträchtigungen
Für Menschen, die nicht gut zu Fuß sind, ist Busfahren oft eine große Herausforderung: Einsteigen, aussteigen, den richtigen Platz finden. Um das zu üben, bieten die Stadtwerke Lübeck ein kostenfreies Mobilitätstraining an.
Im Vergleich zum Autofahren schont Bahn- und Busfahren die Umwelt. Nach Fahrradfahren und zu Fuß gehen ist der ÖPNV die klimafreundlichste Variante sich fortzubewegen. Zudem ist es in der Stadt wesentlich bequemer, weil man nicht selbst durch den dichten Verkehr steuern und umständlich einen Parkplatz suchen muss. Laut Daten der Deutschen Umwelthilfe macht der Parksuchverkehr allein 30 bis 40 Prozent des innerstädtischen Gesamtverkehrs aus - und verursacht zudem Stress, nicht nur für diejenigen hinterm Steuer. Es ist also eine gute Idee, auf die "Öffis" umzusteigen. Allerdings ist das für viele Menschen durchaus mit Hürden verbunden. Dafür bieten die Stadtwerke Lübeck jetzt ein Mobilitätstraining an.
Ängste und Stress schon beim Einsteigen
Geübt wird in einem leeren Bus. Treffpunkt ist im Fährhafen von Lübeck-Travemünde. Aus dem nahegelegenen Seniorenheim kommen einige Menschen, die sich hier schulen lassen wollen. Alle von ihnen haben Rollatoren und viele - wie Angelika, 77 Jahre alt - kommen mit Bedenken, dass sie nicht heil in den Bus ein- und wieder aussteigen können. "Es sind Trauben von Menschen da. Man will rein, und dann ist man als behinderter Mensch natürlich unter Stress", beschreibt sie. Auch der 94-jährige Helmut hat Angst, beim Aussteigen zu stürzen: "Ich habe erst seit Kurzem einen Rollator. So ein Absatz hier, das ist gefährlich. Deshalb will ich das hier mal üben."
Schon kleine Tricks geben mehr Sicherheit
In der Übungsstunde herrscht die Ruhe vor, die im Alltag oft fehlt - begleitet von einem Mobilitätstrainer. Der leere Bus senkt sich ab und Helmut will es erstmal allein versuchen. Zum Einsteigen will der 94-Jährige seinen Rollator anheben. Mobilitätstrainer Peter Salzwedel hat schon den ersten Tipp, damit es leichter geht: "Schauen Sie sich mal ihren Rollator an. Sie haben hier sogar Trittstufen, wo sie drauftreten können." Helmut ist überrascht: Weil der Rentner hinten auf die Stufe am Rollator tritt, hebt der sich automatisch vorne an - ohne Kraftanstrengung. Die erste Hürde ist gemeistert. "Hervorragend", findet Helmut.
Immer mehr Menschen wollen den ÖPNV nutzen - trotz Einschränkungen

Im Bus geht es dann um den richtigen Sitzplatz. Mobilitätstrainer Peter rät, möglichst einen Platz mit Blick nach hinten zu wählen, also entgegen der Fahrtrichtung: "Dann werden Sie, wenn der Busfahrer oder die Busfahrerin mal bremst, möglichst in den Sitz hineingedrückt. Denn wir wollen ja, dass Sie sitzen bleiben." Die Stadtwerke Lübeck befördern jährlich fast 30 Millionen Fahrgäste. Laut Unternehmen werden es immer mehr, die aufgrund ihres Alters auf den Bus angewiesen sind. Das Schulungsangebot wurde deshalb deutlich ausgebaut. Insgesamt gibt es in diesem Jahr Termine in neun Stadtteilen. Andere Regionen bieten ähnliche Programme an. Der Verkehrsverbund Rhein-Neckar beispielsweise organisiert unter dem Motto "Mobil bleiben mit Bus und Bahn" kostenlose Trainings, bei denen Senior*innen lernen, Fahrten zu planen, sicher ein- und auszusteigen sowie sich im Fahrzeug zu bewegen - auch mit Rollator oder Rollstuhl. Der Nutzen liegt auf der Hand: Eine Cochrane-Studie zeigt, dass solche Trainings die Mobilität und Funktionsfähigkeit älterer, gebrechlicher Menschen signifikant verbessern können. Das geht sogar so weit, dass sich die Zahl der Krankenhauseinweisungen durch vorher absolvierte Trainings verringert.
Was, wenn die Tür plötzlich zugeht?

In Travemünde steht für Senior Helmut jetzt der schwierigste Teil an: Der Ausstieg. Aber vorher stellt sich die zweite Mobilitätstrainerin erstmal in die Tür. Christine Palm lässt zuerst einmal die Türen des Busses schließen. Sie will den Senioren die Angst nehmen, sie könnten eingeklemmt werden. "Da passiert gar nichts", sagt sie. "Das sind ganz weiche Gummilippen." Sie zeigt auch, was passiert, wenn die Tür wirklich mal zugeht, wenn man noch dazwischen ist und steckt die Hand rein: "Dann geht die Tür sofort wieder auf." Außerdem könne ein Bus bei geöffneten Türen auch nicht losfahren. Da seien die Bremsen blockiert. Wieder was gelernt. Für eine Teilnehmerin ist diese Information "tröstlich", wie sie selber sagt.
Viele ältere Menschen in ihrer Mobilität eingeschränkt
Laut Daten des Statistischen Bundesamts leben in Deutschland rund 7,9 Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung, was etwa 9,3 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Knapp die Hälfte dieser Personen ist zwischen 55 und 74 Jahre alt, ein Drittel über 75. In den meisten Fällen sind körperliche Einschränkungen wie Erkrankungen der inneren Organe, der Gliedmaßen oder der Wirbelsäule die Ursache. Zusätzlich sind etwa 13 Prozent der Bevölkerung von gesundheitlichen Einschränkungen betroffen - bei mehr als der Hälfte von ihnen ist auch die Mobilität beeinträchtigt.
Bedarf und Nutzung gehen auseinander

Die Wahrscheinlichkeit solcher Einschränkungen steigt mit zunehmendem Alter deutlich an: Der ÖPNV sollte also insbesondere Menschen mit körperlichen Einschränkungen und älteren Menschen mehr Teilhabe ermöglichen, weil sie alle anderen Verkehrsmittel häufig nicht oder nicht mehr nutzen können. Laut Zahlen des Bundesministeriums für Verkehr und des RKI nutzen aber nur insgesamt etwa neun Prozent der Bevölkerung den öffentlichen Personennahverkehr als Hauptverkehrsmittel. Weiterhin zeigt sich, dass ein Drittel der Menschen mit Beeinträchtigungen Unterstützung bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel benötigt, etwa wegen fehlender oder unzuverlässiger Informationen über Barrieren.
Neues Selbstbewusstsein durch das Training
Der 94 Jahre alte Helmut will jetzt aussteigen. Aber nicht vorwärts, warnt Mobilitätstrainer Peter: "Das Vorwärts-Herausheben kostet sie sehr viel Kraft. Und wenn der Spalt dann doch mal etwas größer ist, könnten Sie stürzen. Und das wollen wir vermeiden." Deshalb zeigt er die Vorbereitung für den Rückwärts-Ausstieg: "Wir gehen mit dem Rollator auf den Ausgang und dann drehen wir uns um 180 Grad." Der Mobilitätstrainer gibt auch Hinweise dazu, welches Bein zuerst herauszuheben ist: "In der Regel ist es das steifere Bein. Und jetzt den Rollator nicht anheben, sondern ziehen." Schnell steht Rentner Helmut mit seinem Rollator wieder auf dem Bürgersteig und ist sichtbar erleichtert, dass ihm hier beim Mobilitätstraining die Sorgen vor der nächsten Busfahrt genommen wurden: "Ich habe das ja nun mitgekriegt, wie bequem es in Anführungsstrichen ist, auszusteigen, man muss nur die richtigen Handgriffe machen." Der Nutzen ist also da und der Bedarf ebenso - jetzt muss die Idee der Mobilitätstrainings noch flächendeckend in Deutschland Schule machen.
