Die Regenbogenflagge vor dem Rathaus in Göttingen. © NDR Foto: Jens Klemp

Transberaterin: "Realität von Regenbogenfamilien anerkennen"

Stand: 17.05.2022 20:47 Uhr

Homosexuelle, bi-, inter- oder transsexuelle Menschen erleben immer wieder Diskriminierung. Daran wird am 17. Mai, dem Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Trans- und Interphobie, erinnert.

Hannah Engelmann-Gith schaut in die Kamera. © NDR
Laut Hannah Engelmann-Gith würden viele queere Menschen, die Gewalt erfahren, diese nicht zur Anzeige bringen.

Die Göttinger Erziehungswissenschaftlerin Hannah Engelmann-Gith ist Transberaterin, arbeitet in der politischen Bildung zu diesen Fragen und ist Lehrbeauftragte an der Uni Hildesheim. Im Interview spricht sie über Diskriminierung, Gewalt und Sorgen von Betroffenen und darüber, was die Politik besser machen muss.

Frau Engelmann-Gith, inwiefern ist denn dieser Gedenktag heute wichtig?

Hannah Engelmann-Gith: Der internationale Tag gegen Homophobie, Trans- und Interfeindlichkeit ist nach wie vor notwendig. Das liegt einerseits daran, dass wir nach wie vor Diskriminierung, Gewalt, Beleidigungen und Übergriffe gegen queere Menschen in ihrer Vielfältigkeit sehen. Wir sehen gesellschaftliche Debatten, die unsere Existenz infrage stellen, in der unsere Lebensrealitäten, unsere Identitäten, unser Begehren als Ideologie verhandelt wird und infrage gestellt wird, in Abrede gestellt wird und letztlich aus der Gesellschaft gedrängt werden soll. Sie sind teilweise erschreckend weit im Mainstream verankert. Und wir sehen ja auch an den aktuellen Zahlen zu Übergriffen auf queere Menschen, dass es auch nach wie vor zu strafrechtlich relevanten Übergriffen und sogar mit steigenden Zahlen kommt.

Stichwort Zahlen: Das Land Niedersachsen warnt, dass die Zahl der Gewaltdelikte gegen queere Menschen zugenommen hat. Wie schätzen Sie das ein? Ist die Gewalt tatsächlich gestiegen oder wurden einfach mehr Fälle zur Anzeige gebracht?

Engelmann-Gith: Diese Zahlen sind tatsächlich mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten. Wir wissen aus Studien, dass viele queere Menschen, die Gewalt erfahren, diese nicht zur Anzeige bringen. Unter anderem, weil sie Sorge haben oder die Erfahrung gemacht haben, bei der Polizei nicht ernst genommen zu werden oder aber sogar noch weitere Diskriminierung dort erfahren. Wir wissen auch, dass viele kriminelle Taten von deutschen Sicherheitsbehörden nicht unbedingt richtig eingeordnet werden. Insofern müssen wir davon ausgehen, dass hier eine ganz große Dunkelziffer noch hinzukommt. Gleichzeitig kann es gut sein, dass die Anteile der Taten, die zur Anzeige gebracht werden, auch steigen, weil queere Organisationen sichtbarer werden, selbstbewusster auftreten, in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen so verankert sind. Das kann auch eine Abwehr bei Personen hervorrufen, die sich davon in ihrer Identität, in ihrem Weltbild gestört, irritiert, verunsichert fühlen und darauf aggressiv und teilweise gewalttätig reagieren.

Welche Erfahrungen machen Sie denn im Alltag zur Akzeptanz von LGBTQI, also Lesben, Schwulen, Bi-, Trans-, Intersexuellen und queeren Menschen?

Engelmann-Gith: Ich bin ja hier in der Transberatung beim Queeren Zentrum Göttingen tätig. Wir leisten also Beratungen für Personen, die mit dem Thema Trans zu tun haben. Und für diese Menschen ist ganz häufig eine Frage: "Bin ich so in Ordnung? Kann ich so sein, auf die Weise trans sein oder mich geschlechtlich auf die Weise finden, wie es für mich stimmig ist? Oder muss ich dann damit rechnen, da infrage gestellt zu werden, nicht ernst genommen zu werden, angegriffen zu werden, falsch angesprochen zu werden und eingeordnet zu werden oder mit absurden Vorwürfen überhäuft zu werden?

Begriffsklärung Transgender

Transgender sind Personen, deren Geschlechtsidentität von dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweicht. Es gibt Transfrauen und Transmänner. Menschen, die sich in der binären Geschlechterordnung (Mann/Frau) nicht wiederfinden, bezeichnen sich auch als queer oder genderqueer. Transsexualität ist ein älterer Begriff, der von dem Sexualforscher Magnus Hirschfeld (1868-1935) geprägt wurde und in Deutschland noch immer als Diagnose verwendet wird. Viele Transgender lehnen diese Bezeichnung ab, weil sie nur auf die sexuelle Orientierung, nicht aber auf die soziale Identität abzielt. Intersexuelle (wie die südafrikanische Leichtathletin Caster Semenya) sind Menschen, die genetisch, hormonell, anatomisch nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können.

Was für Erfahrungen aus dem Alltag bekommen Sie geschildert?

Engelmann-Gith: Ganz konkret: Beleidigungen auf der Straße, Dinge werden hinterhergerufen oder Leute werden angegangen. Wir haben aber natürlich auch die etwas subtileren Formen, die "Mikroaggressionen" genannt werden. Also die, die vielleicht gar nicht unbedingt böse gemeint sind, vielleicht auch nicht irgendwie strafrechtlich relevant sind, aber trotzdem dadurch, dass sie ständig passieren, schmerzhaft werden. Das sind so Dinge wie falsch angesprochen zu werden oder mit meinem Pronomen, mit meiner Geschlechtlichkeit, mit meinem Namen nicht angenommen zu werden, sich rechtfertigen zu müssen, genaue Auskunft darüber geben, wer ich bin, wie ich bin, wie es um meine Körperlichkeit steht, ob ich vielleicht Operationen habe machen lassen oder nicht. Fragen von Leuten in Situationen, wo das eigentlich nichts zur Sache tut und mein Gegenüber auch gar nichts angeht. Aber trotzdem diese Erwartungshaltung da ist: "Du bist anders, also musst du dich jetzt rechtfertigen und erklären und mir alles genau erläutern."

Der heutige Gedenktag erinnert daran, dass vor 32 Jahren die Homosexualität aus der internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation gestrichen wurde. Andererseits gibt es immer noch Angriffe auf LGBTQI-Menschen. In welcher Situation befinden wir uns aktuell aus Ihrer Sicht?

Engelmann-Gith: Gesamtgesellschaftlich befinden wir uns in so einer Art Rückbewegung oder auch ein bisschen Schlingern. Wir haben nach wie vor die Alltagspraxis im Gesundheitssystem und auch im Rechtssystem, dass mit Transpersonen umgegangen wird, als wären sie gestört. Nach dem gültigen Diagnoseschlüssel wird Transgeschlechtlichkeit immer noch als Störung klassifiziert. Obwohl eigentlich der wissenschaftliche Stand längst darüber hinaus ist, hängt das Gesundheitssystem im Ganzen hinterher. Ähnlich ist es bei Intergeschlechtlichkeit, wo auch vielmehr von Störungen oder Ähnlichem die Rede ist als von Vielfalt und Diversität und von Variationen von Geschlechtlichkeit, die es einfach natürlicherweise und schönerweise in unserer Welt gibt.

Was erwarten Sie von der Politik in Zukunft, was sollte sich ändern?

Engelmann-Gith: Von der Politik erwarte ich in erster Linie, die Selbstbestimmung von queeren Menschen im Geschlechtlichen, in ihren Beziehungen, in Familienkonstellationen gesetzlich zu stärken und als Grundrecht anzuerkennen. Das bedeutet also Antidiskriminierungsgesetzgebung, Gleichstellungsgesetzgebung und so weiter, entsprechend auch ausdrücklich zu erweitern, sodass sie für Menschen aller Geschlechter gilt, sodass sie für alle Beziehungskonstellationen gilt. Für Regenbogenfamilien, gebärende Väter oder zeugende Mütter. Mehr Elternkonstellationen anzuerkennen, rechtliche Sicherheit gewährleisten und eine wirkliche Gleichstellung vollziehen. Ich glaube, dass in einer Gesellschaft, in der diese Selbstverständlichkeiten sich einmal gesetzt haben, sich dann auch das Klima insgesamt sich positiv entwickeln kann.

Das Interview führten Nina Reckemeyer und Wieland Gabcke

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Aktuell | 18.05.2022 | 08:00 Uhr

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