Unbekannte Todesfälle: Ostseefluchtforschung vor dem Aus

Stand: 24.01.2023 11:04 Uhr

60 Jahre nach dem Bau der Mauer untersuchen Forscher, wie viele Menschen versucht haben, über die Ostsee aus der DDR zu fliehen und dabei gestorben sind. Ihr Projekt können sie aber offenbar nicht beenden. Grund: Die Finanzierung läuft im Februar aus.

von Carolin Kock

In den vergangenen dreieinhalb Jahren konnten sie 138 Todesfälle von Menschen biografisch aufklären, die zu DDR Zeiten versuchten über die Ostsee zu fliehen. Dafür haben die drei Projektmitarbeitenden Archive durchforstet, Daten von Standesämtern ausgewertet, Zeitzeugen befragt und ihre Ergebnisse in einem großen Datensatz zusammengetragen, so eine Sprecherin des Projekts. Allerdings sind die Forschenden bei ihrer Recherche von der Corona-Pandemie ausgebremst worden. Archive und Ämter waren geschlossen und Zeitzeugen konnten nicht befragt werden.

130 Todesfälle bleiben voraussichtlich ungeklärt

Das Bundesministerium gewährte deshalb eine Verlängerung von vier Monaten - die Forschenden hätten danach aber zusätzlich weitere sechs Monate benötigt. Nun bleiben noch mehr als 130 Todesfälle unaufgeklärt. Die Fluchten über die Berliner Mauer und die Grenze sind mittlerweile gut erforscht - nicht aber die über die "unsichtbare Grenze" Ostsee. Greifswalder Politikwissenschaftler untersuchen noch 60 Jahre nach dem Mauerbau, wie viele Menschen dabei starben. Jahrzehnte später sind wichtige Akten freigegeben worden, sie zeigen bisher unbekannte Schicksale.

Die meisten Fluchten im Spätsommer

In der DDR ist die Urlaubssaison auch Fluchtsaison. Viele Fluchtwillige nutzen die vollen Strände zunächst als Tarnung, um die Umgebung zu erkunden. Doch aktuelle Forschungen zeigen, dass die meisten von ihnen erst im Spätsommer ihre Flucht antreten: "Die Ostsee war noch aufgeheizt vom Sommer, die Herbststürme haben noch nicht eingesetzt, gleichzeitig war aber die Grenzsicherung nicht mehr so stark, weil die Urlaubssaison vorbei war. Deshalb haben wir von August bis Oktober die meisten Todesfälle zu beklagen", weiß Merete Peetz vom Institut für Politik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Greifswald. Gemeinsam mit Jenny Linek und Henning Hochstein rollt sie seit 2019 alle Todesfälle neu auf. Das Greifswalder Projekt ist Teil eines vom Bund geförderten Forschungsverbundes mit der Freien Universität Berlin und der Universität Potsdam zur Klärung von Todesfällen und Schicksalen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 24.01.2023 | 11:00 Uhr

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