Erste eigene Wohnung: Projekt "Wohnführerschein" startet in Rostock
Eine gute Wohnung in Rostock zu finden, ist derzeit nicht leicht - besonders für junge Leute mit einem Jugendhilfe-Hintergrund. Ihnen soll ein "Wohnführerschein" helfen. Für dieses Zertifikat ist der erste Kurs in der Hansestadt gestartet.
Die 19-jährige Tina Delakowitz zuckt nervös mit dem Knie, als der Kurs im Stadtteil- und Begegnungszentrum Evershagen beginnt. Das sei ihre Sozialphobie, sagt sie. Mit fremden Menschen ist es manchmal schwierig. Sie wohnt im betreuten Wohnen, seit sie 13 Jahre alt ist - derzeit zusammen mit einer Mitbewohnerin im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen, erzählt Tina: "Ich habe zwei Jahre lang die Schule geschwänzt aufgrund von Mobbing und psychischen Erkrankungen. Meine Mutter konnte sich nicht mehr richtig um mich kümmern. Weil ich auch eine schwere Rückenkrankheit habe, weshalb ich dringend operiert werden musste. Da ist dann das Jugendamt eingeschritten, was im Endeffekt auch der beste Schritt war."
Teilnehmende wollen sich in die Selbstständigkeit wagen
Tina schaut sich in Rostock gerade schon nach einer eigenen Wohnung um. Aber sie weiß, dass der Start nicht einfach wird. Durch ihre Borderline-Erkrankung habe sie Angst, dass sie vom selbstständigen Wohnen schnell überfordert sein könnte. Deswegen sei sie in den Wohnführerschein-Kurs gekommen, sagt Tina: "Ich verspreche mir hiervon, dass ich später zum Beispiel mit Nachbarschaftskonflikten viel besser umgehen kann. Und im Mietrecht und Kündigungsrecht kenne ich mich noch nicht so gut aus."
Papierkram und Waschmaschinenanschlüsse
Im "Wohnführerschein“-Kurs geht es unter anderem um nötige Verträge und Kündigungen sowie um Konflikte mit Nachbarn: Wie spricht man freundlich und vernünftig miteinander, gerade wenn es Probleme gibt? Es gibt Tipps zum effizienten Heizen, Lüften und Reinigen. Und auch handwerkliche Abläufe stehen im Fokus: Welche Werkzeuge sind nötig, wie können am besten Löcher in Wände gebohrt werden und wie wird eine Waschmaschine angeschlossen? Um das zu üben, sind Trennwände mit entsprechenden Anschlüssen vorbereitet.
Wohnführerschein bietet Wohnungsanbietern Sicherheit
Der erste Kurs läuft über den Verein "Jugendwohnen Hansestadt Rostock". Andere freie Träger der Jugendhilfe in Rostock haben ebenfalls entsprechend geschulte Mitarbeitende und wollen künftig weitere Termine anbieten. Das Projekt sei bitter nötig, sagt einer der Leiter des ersten Kurses, der Sozialarbeiter Karl Felsch: "Vielen Wohnungsunternehmen ist es wichtig, Sicherheiten zu haben. Da haben wir tatsächlich ein massives Problem. Junge Leute, die aus der Jugendhilfe kommen - sei es durch ambulante Betreuung oder eine Wohngruppe - die können in Regel nichts bis wenig vorweisen. Da sind meist zum Beispiel keine Bürgen zu finden." Der Kurs sei organisiert worden, um den Wohnungsunternehmen zu zeigen, dass die jungen Teilnehmer bereit sind, sich für eine eigene Unterkunft in Eigeninitiative weiterzubilden.
Wohnungsgenossenschaften sind Partner
Mehrere Wohnungsgenossenschaften in Rostock haben bereits zugesagt, dass junge Leute mit Wohnführerschein eine höhere Chance auf Erfolg bei der Wohnungssuche bekommen. Ein gutes Grundwissen sei eine Erleichterung für alle Vertragsparteien, erklärt Karin Mitteldorf von der Baugenossenschaft Neptun: "Für uns als Genossenschaft ist es sehr hilfreich, wenn die jungen Erwachsenen bereits ein Gespür für das Zusammenleben in einem Mehrfamilienhaus erhalten. Damit ist mancher Ärger schon im Vorfeld vermeidbar." Mitunter habe es mit Mietern, die aus der Jugendhilfe kommen, Probleme gegeben. Oftmals fehle die Nachbetreuung und einige junge Leute hätten sich überfordert und alleingelassen gefühlt. Das habe sich durch Lärm gezeigt, bis hin zu verschmutzten oder vermüllten Wohnungen. Manche seien auch in Schuldenfallen geraten und hätten Ihren Wohnraum wieder verloren.
Großer Erfolg mit Wohnführerscheinen in Berlin
Wie mehrere Teilnehmende des ersten Wohnführerschein-Kurses in Rostock bedauernd anmerken, fehlt unter den Partnern des Projekts allerdings das größte Rostocker Wohnungsunternehmen: die WIRO. Ein Sprecher der Gesellschaft bestätigte das NDR 1 Radio MV. Die WIRO prüfe eigene Angebote in diesem Bereich, derzeit sei es Corona-bedingt schwierig. Karl Felsch vom Verein "Jugendwohnen Hansestadt Rostock" wirbt dagegen für eine Zusammenarbeit von Wohnungsunternehmen und den freien Trägern der Jugendhilfe. In der Bundeshauptstadt fahre man mit dem Wohnführerschein schon seit einigen Jahren sehr gut, so Felsch: "In Berlin gab es tatsächlich so großen Zulauf, dass die Trainerinnen und Trainer gesagt haben: Wir gehen in andere Bundesländer und Städte um Menschen wie uns auszubilden."
Erste Rostocker Zertifikate im Februar
Nach dem ersten Kurs in Rostock zeigt sich Tina Delakowitz zufrieden - es sei eine nette Gruppe. Und sie fühle sich bereits besser informiert auf dem Weg zu ihrer Wunsch-Wohnung, die die 19-Jährige so beschreibt: "Eine schöne Zweiraumwohnung, natürlich mit Balkon. Und es müssen unbedingt Haustiere erlaubt sein. Am besten in einem Stadtteil nah bei meiner Mutter - Evershagen, Schmarl oder Lütten Klein." In den kommenden drei Wochen gibt es noch einige Kurs-Termine für die ersten Wohnführerscheine in Rostock. Für das Abschlusszertifikat soll das Gelernte abgefragt werden. Damit die ersten jungen Leute mit Jugendhilfe-Hintergrund beweisen können, dass sie gute Nachbarinnen beziehungsweise Mieterinnen sein wollen - und können.
