Adipositas bei Kindern in MV: Kampf gegen das Übergewicht
Jedes siebte Vorschulkind in Mecklenburg-Vorpommern ist übergewichtig, heißt es von der Medigreif-Unternehmensgruppe, die auch eine Fachklinik für Adipositas-Behandlung bei Kindern und Jugendlichen in Heringsdorf betreibt. Seit Jahren geht die Zahl stetig nach oben.
"Offenbar haben wir in unserem Bundesland auch ein großes sozialpolitisches oder sozialökonomisches Problem, das natürlich mit ein Risikofaktor für Übergewicht und Adipositas darstellt." sagt der Chefarzt der Medigreif-Inselklinik in Heringsdorf Prof. Ralf Schiel. Die Coronapandemie hat die Situation noch einmal weiter verschärft. Im Landkreis Vorpommern-Greifswald leben die dicksten Mädchen, im Landkreis Vorpommern-Rügen die dicksten Jungen.
Mangelnde Bewegung in armen Familien
Studienergebnisse zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischen Status deutlich häufiger von Übergewicht und Adipositas betroffen sind. Chefarzt Prof. Ralf Schiel spricht von mangelndem Bewegungs- und Ernährungsverhalten in "sozial schwachen" Familien. Der Mediziner atmet schwer, als er sagt: "Offenbar haben wir in unserem Bundesland auch ein großes sozialpolitisches oder sozialökonomisches Problem, das natürlich mit ein Risikofaktor für Übergewicht und Adipositas darstellt."
Adipositas-Therapie in der Medigreif-Inselklinik
Der 14-jährige Fiete ist völlig aus der Puste. Er versucht, mit geradem Rücken und nach vorn gestreckten Armen in die Knie zu gehen. Immer und immer wieder. Eine Sporttherapeutin treibt ihn an. Fiete gibt sein Bestes, eine Minute lang. Man sieht ihm an, wie schwer es ihm fällt. Fiete wiegt 117 Kilo. Der Jugendliche war schon als Kind übergewichtig. Während der Coronapandemie klettert sein Gewicht auf 130 Kilo. Da beschließt der Jugendliche, etwas zu ändern. Er beginnt, seine Ernährung umzustellen, nimmt zehn Kilo ab - aber das reicht nicht. Jetzt wird Fiete in der Medigreif-Inselklinik in Heringsdorf therapiert. Die Klinik ist spezialisiert auf Kinder und Jugendliche mit Adipositas - also krankhaftem Übergewicht.
Übergewichtige Kinder erfahren Ausgrenzung und Mobbing
Neben Fiete steht Felix mit Schweißtropfen auf der Stirn und trainiert mit Hanteln seine Brustmuskeln. Der 14-jährige aus Brandenburg wiegt 118 Kilo. Er kämpft jetzt gegen sein Übergewicht, weil er sich nicht mehr schön findet und es keine coolen Klamotten in seiner Größe gibt. Sein Arzt hat ihn zur Kur hier nach Heringsdorf geschickt.
"Ich trau mich mehr, ich habe keine Angst, irgendwas falsch zu machen und ausgelacht zu werden, wie in der Schule." Felix, 14 Jahre alt, 118 Kilo schwer
Gleich hinter Felix stülpt sich die 17-jährige Janine Boxhandschuhe über und drischt voller Kraft in die Luft. Das Mädchen kommt aus Baden-Württemberg. Dort ist der Anteil übergewichtiger Kinder und Jugendlicher deutlich geringer als in Mecklenburg-Vorpommern. In Janines Familie wird täglich frisch und gesund gekocht, trotzdem ist sie dick geworden. Sie sagt, zu viele Kohlenhydrate und zu wenig Bewegung seien der Grund für ihr Gewicht. Soviel wie hier bei der Kur haben sich die drei seit langem nicht bewegt.
"Wir teilen ja dasselbe Leid, wir haben alle dasselbe Problem und es ist halt was anderes, als wenn man mit normalgewichtigen Sport macht." Janine, 17 Jahre alt, 98 Kilo schwer
Seit frühester Kindheit ertragen die drei Jugendlichen Ausgrenzung und Mobbing - wie eigentlich alle Übergewichtigen. Hier kämpfen sie zum erstem Mal mit Gleichgesinnten gegen ihre Pfunde.
Der Body Mass Index berechnet sich aus dem Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch die Körpergröße in Quadratmetern.
Kategorie | BMI | Risikio- und Begleiterkrankungen |
---|---|---|
Normalgewicht | 18,5-24,9 | durchschnittlich |
Übergewicht | 25-29,9 | gering erhöht |
Adipositas Grad I | 30-34,9 | erhöht |
Adipositas Grad II | 35-39,9 | hoch |
Adipositas Grad III | über 40 | sehr hoch |
Übergewichtige Kinder von übergewichtigen Eltern?
Ergebnisse einer Familien- und Zwillingsforschung von Dr. Thomas Kauth aus dem Jahr 2018 schätzen den Einfluss der Gene auf 50 bis 90 Prozent. Etwa 80 Prozent der übergewichtigen Kinder haben ein übergewichtiges Elternteil. Bei 30 Prozent sind es sogar beide Eltern. Übergewicht macht krank: Übergewichtige sterben im Schnitt zehn Jahre früher als Normalgewichtige.
Bereits in frühester Kindheit ist Adipositas mit Störungen in der Biologie und Funktion zahlreicher Zellen und Gewebe verbunden. Übergewicht verursacht viele Folgeerkrankungen wie Diabetes, Fettleber, Arterienverkalkung oder Bluthochdruck. Wer übergewichtig ist bewegt sich nicht so gern. Beide Faktoren können auf Dauer zu schweren Komplikationen des Stoffwechsels führen. Auch als tödliches Quartett bekannt sind dabei vier Bereiche gleichzeitig betroffen: Fettleibigkeit besonders im Bauchbereich, Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte sowie eine Insulinresistenz.
Letzteres bedeutet, dass das körpereigene Insulin aus der Bauchspeicheldrüse die hohen Blutzuckerwerte nicht mehr regulieren kann. Dadurch können die Nieren zerstört werden und es kann zu Erblindung und schlecht heilenden Entzündungen besonders an Füßen und Unterschenkeln führen. Chronisches Übergewicht führt auch zu schweren Gelenkerkankungen und Krebs.
Übergewicht wird am Ende teuer
Gesundheitsökonomen haben die Kosten von an Übergewicht Erkrankten in vielen Studien analysiert. Übergewichtige belasten das Gesundheitssystem mit zusätzlichen Kosten - jeder adipöse Mann im Schnitt mit 166.911 Euro, jede adipöse Frau durchschnittlich mit 206.525 Euro.
"Früher gabs ganz viel ungesunde Sachen. So Süßigkeiten, auch fettige Sachen wie Tiefkühlpizza als Mittag mal so fix weg. Das wars dann." Fiete, 14 Jahre
Gesund ernähren
Fiete, Janine und Felix bereiten inzwischen das Mittagessen vor. Ein Ernährungsberater gibt Hilfestellung. Die Jugendlichen sollen Spaß am gemeinsamen Kochen entwickeln. Und ein Bewusstsein dafür, was genau sie eigentlich essen. Und auch ihre Psyche wird bei der Therapie gestärkt. Sie müssen es selbst wollen, Gewicht zu verlieren.
Im Schnitt werden sie hier jetzt vier Wochen lang therapiert. Danach wartet die eigentliche Herausforderung auf Janine, Felix und Fiete - weiter auf Abnehmkurs zu bleiben und im Alltag durchzuhalten.
Das Projekt Netzwerk Adipositas MV
Das Aktionsbündnis - bestehend aus verschiedenen Krankenkassen, Fachkliniken, Kinderärzten, Kitas - will in ganz Mecklenburg-Vorpommern schon bei den Jüngsten ansetzen. In Kitas und Horten soll aufgeklärt werden. Angebote für die Behandlung von übergewichtigen Kindern sollen helfen, Normalgewicht zu erreichen. Mediziner, Sporttherapeuten und Ernährungsberater wollen positiv auf die Kinder und Jugendlichen einwirken. Das Projekt wird von der Medigreif geleitet.
Mittels App gesundes Leben im Blick behalten
Geplant ist auch die Entwicklung einer App für Kinder und Jugendliche, die sie bis ins Erwachsenenalter begleiten soll, heißt es von der Medigreif-Unternehmensgruppe. Mit ihrer Hilfe sollen sie zu mehr Bewegung animiert werden, eine gesunde Ernährung, Blutfettwerte und Körpergewicht im Blick behalten. Außerdem können sie sich über die App mit Gleichgesinnten vernetzen. Die Finanzierung der Entwicklung der App von 600.000 Euro ist allerdings noch nicht abgeschlossen.