NachGedacht: Schafft die documenta die Kehrtwende?
Die erste Hälfte der documenta ist vorbei. Die verbleibenden 50 Tage sollten genutzt werden, sich zu sortieren, neu zu finden und Klarheit zu schaffen, findet Claudia Christophersen in ihrer Kolumne.
Es könnte der letzte, der allerletzte Versuch in Kassel sein. Die documenta will ihren Antisemitismus-Dauerschleifenskandal in den Griff bekommen. "Wir erwarten, dass unter Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Kunstfreiheit Hinweisen auf mögliche antisemitische Bildsprache und Beförderung von israel-bezogenem Antisemitismus nachgegangen wird", so der Aufsichtsratsvorsitzende der documenta und Oberbürgermeister von Kassel Christian Geselle.
Klare Worte, die man schon vor Wochen, vor Monaten gerne gehört hätte. Was hat dieser Satz für einen Vorlauf gebraucht! Kurze, knappe Rückblende: Die ersten Antisemitismus-Turbulenzen kündigten sich an, das war im Januar, vor gut acht Monaten. Künstler mit Nähe zur israelkritischen BDS-Bewegung waren auf der documenta-Einladungsliste gesichtet worden. Verdachtsmomente, die sich hartnäckig hielten, bis das eindeutig antisemitische Wimmelbild kurz nach der Eröffnung am 18. Juni plötzlich auf dem Kasseler Friedrichsplatz stand. Was folgte ist bekannt: Endlose Diskussionen, keine Entscheidungen, eine hilflos wirkende Generaldirektion, ein viel zu später Rücktritt und eine Neubesetzung, die schon nach wenigen Tagen ebenfalls in die Kritik geriet.
Zur Halbzeit Verstärkung auf der documenta in Kassel
Auch Alexander Farenholtz, Nachfolger der Generaldirektorin Sabine Schormann, scheint nicht entschlussfreudig genug, wieder geht es um Motive mit antisemitischer Couleur, diesmal in einer Broschüre eines syrischen Künstlers, wieder wird die Kunstfreiheit ins Feld geführt und damit der Antisemitismus in Kassel wundersam verteidigt. An dieser Stelle der Erzählung angekommen, kann man nur fassungslos den Kopf schütteln. Warum so zögerlich, warum so unentschieden, warum so vage?
Jetzt also, seit dieser Woche, wird Verstärkung nach Kassel geholt. Sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen die Kunstschau genauestens unter die Lupe nehmen. Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachgebieten mit unterschiedlicher Provenienz sind dabei: Von Friedens- und Konfliktforschung über Diskriminierung und Inklusion über Psychologie antisemitischer Gewalt bis hin zum Top-Rechtswissenschaftler, und natürlich ist auch die Kunst namhaft vertreten. Ein Team, das sich sehen lassen kann, das sich traut, unabhängig und gut ausgesucht ist. Hoffentlich werden die Sieben es richten und die bis hierhin verfahrene Lage mit klugen Debatten und tatkräftigen Entscheidungen in den Griff bekommen. Denn: Die Uhr tickt in Kassel. Die documenta geht gerade auf ihre Halbzeit zu. Tag 49 der 100 Tage dauernden Kunstschau ist angebrochen.
documenta sollte sich von der Zeit gehetzt fühlen
Halbzeit. "So schwer mir das Aufwachen fiel, so schwer fiel mir das Einschlafen. Ich war noch nicht fertig mit dem Tag, wenn die Nacht übergriff. Ich war nicht fertig mit der Nacht, wenn der Tag aufkam. Eigentlich hetzte mich die Sonne." Die ersten Sätze aus dem Roman "Halbzeit" von Martin Walser. 1960 erschienen mit fast 900 Seiten. Kritiker und Leser ächzten, waren überrascht über die Erzähldichte, sicher auch überfordert von so vielen Pirouetten, die Martin Walser sprachlich elegant und unermüdlich zu drehen verstand.
Kleinste Alltagsdetails aus den Ehe- und Familienexistenzen der kriegsgeschädigten jungen Bundesrepublik, die Sehnsucht nach dem unbeschwerten Neuen aber fühlbar in fast jedem Satz. "Halbzeit" beschreibt die Hälfte eines Lebens mit erlebten Enttäuschungen und bleibenden Erwartungen. Walsers Protagonist fühlt sich in "Halbzeit" von der Sonne gehetzt. Die documenta in Kassel sollte sich von der Zeit gehetzt fühlen. 50 Tage bleiben ihr, um das Ruder noch herumzureißen.