NachGedacht: Walk alone!
Der Mensch ist ein soziales Wesen - aber er ist auch ein bisschen mehr. Man kann ja nicht immer nur im Rudel Stadionhymnen singen, findet Alexander Solloch in seiner Kolumne.
In der Regel sagt Olaf Scholz ja lieber nichts oder wenn es unbedingt sein muss, dann tut er es doch immerhin so leise, dass der Hörrohr-Industrie die Ohren überlaufen dürfen in freudiger Erwartung bevorstehender Großaufträge. Bis die abgearbeitet sind, soll das Publikum eben, falls es sich informiert fühlen möchte, das Mienenspiel des Kanzlers lesen, und das funktioniert ja auch recht passabel: Wenn man sich seine Pressekonferenz mit Mahmud Abbas nur oft und genau genug in Superzeitlupe anschaut, erkennt man tatsächlich in dem Moment, als der Palästinenserpräsident den Begriff "Holocaust" missbraucht, ein zartes Zucken der Kanzleroberlippe, mutmaßlich ein Zucken der Empörung. Das muss genügen.
Aber er kann auch anders! In der Sommerpause legte er die rhetorische Bazooka an und versprach den um ihre Energieversorgung bangenden Deutschen: "You'll never walk alone." In Momenten der Not greife man zur Fußball-Assoziation! So gewinnt man Zeit, und Zeitspiel wird in deutschen Stadien in der Regel nicht geahndet.
Große Emotionen auch in der Landesregierung
Diese Spaziergangsbegleitungs-Zusage, seit fast sechzig Jahren von den Fans des FC Liverpool hymnisch gesungen und später u.a. von Borussia Dortmund mit kühlem Kalkül gekapert, ist natürlich letztlich nichts anderes als das Ergebnis eines tiefen Griffs in die Kitschkiste, Ausdruck vager Hoffnung in Momenten, in denen ansonsten nichts Tatsächliches mehr zu sagen bleibt.
Ein Verein wie der BVB gründet seine gesamte Existenz auf dieser Gefühlsüberladung. Also, eigentlich gründet er seine Existenz auf einer Bürgschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, die ihm einst das Überleben sicherte, aber packen Sie diesen Sachverhalt mal in einen Liedtext! Dann schon lieber "You'll never usw.", und es stimmt ja auch, man walkt nicht alone, solange man genug Fans in der Landesregierung hat. Da walten große Emotionen!
Gefühle sind ja wirklich fabelhaft, schwer zu ertragen ist allerdings die in diesem Lied zum Ausdruck gebrachte Diffamierung des Alleinseins. Verlotterte, zerrüttete, nervlich vollends ausgelaugte Wesen wären wir, wenn wir tatsächlich niemals mehr allein gelassen würden. "You'll never walk alone" ist, wenn never wirklich never heißen soll, eine Bedrohung, kein Versprechen! Wir können von den wundervollsten Menschen umgeben sein, es kann der liebenswürdigste Bundeskanzler vor unseren Augen Tango tanzen, um uns am Abrutschen ins Alleinsein zu hindern - manchmal braucht es doch eine Pause.
Entdecken uns Einzelwesen, als Einzelne
Was machen wir denn eigentlich, wenn wir allein sind? Klar, wir holen tief Luft, atmen den ganzen sozialen Schrott der letzten Zeit aus, machen uns wieder einigermaßen fit fürs gesellschaftliche Miteinander… aber von diesen Überlebensnotwendigkeiten abgesehen: Was machen wir als Alleingelassene? Wir entdecken, weil wir unbeobachtet sind und niemandem etwas beweisen müssen, den Sinn des Sinnlosen. Allen Alleinseiern gemeinsam sind, schrieb Kurt Tucholsky, "die amüsanten kleinen Umwege, die ihre Betätigung vornimmt. Sie macht Kurven, schlägt Bogen, spielt unterwegs, schöpft aus dem großen Reservebehältnis einer angeblichen Kraftverschwendung neue Kräfte".
Wir entdecken uns Einzelwesen, als Einzelne. Wir werden die, die wir sind. Wir stolpern über Gedanken, von denen wir gar nicht wussten, dass sie in uns schlummern. Wir enthüllen uns als kleine Genies, zwar nach wie vor gebremst von unserer immerwährenden Trotteligkeit, aber doch: genial. Und wenn man sich dann noch überlegt, was wir eigentlich machen, wenn wir nicht allein sind, dann wird bei all dem Gegockel, Hauen und Stechen die Sache endgültig klar. Der Bundeskanzler hätte sagen sollen: "Let’s walk alone more often!" Das kann man auch singen, ich bekomme gleich Gänsehaut.