NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke

NachGedacht: Der kleine Trost

Stand: 08.09.2022 16:42 Uhr

Im Krisenwirrwarr dieser Zeit, die täglich neue traurige Botschaften für uns hat, muss man sich überlegen, was einem überhaupt noch gut tut. Alexander Solloch denkt darüber nach.

von Alexander Solloch

Er hat es schon wieder getan. Hat schon wieder gesagt: "You’ll never walk alone": Bundeskanzler Scholz im Bundestag. Hat das schon wieder gesagt, obwohl wir ihm vor drei Wochen an dieser Stelle einwandfrei nachgewiesen hatten, dass es gar nicht so gut ist, das zu sagen, weil das Alonewalken nicht verhöhnt werden sollte. Was also immer wieder auffällt, ist die totale Wirkungslosigkeit unserer werten Bemühungen.

In Geschichten und Musik liegt aller Trost der Welt

Trost tut Not. Ein schöner Pokal wäre jetzt zum Beispiel sehr tröstlich, so ein Pokal, wie ihn Funny van Dannen besingt in einem seiner vielen feinen Lieder, ein Pokal aus einem Wildschweinschädel, der bloß noch mit Goldbronze angemalt werden müsste, wenn man sich nur mal die Zeit dafür nähme, was man aber, eingewickelt in die Verhedderungen des Alltags, nie tut, ähnlich wie in Funny van Dannens anderem seiner vielen feinen Lieder, dem vom Umsturz, an dem man als Weltverbesserer zwar ein gewisses Interesse hegt, den zu planen man dann aber doch vergisst, weil immer etwas dazwischenkommt, vielleicht, in einem guten Moment, das Nachdenken über die Frage, die Funny van Dannen in einem weiteren seiner vielen feinen Lieder in den Raum stellt, die nämlich, ob Kapitalismus auch mit glücklichen Menschen funktionieren würde, und weil man nach gehörigem Nachdenken die Antwort ahnt wie aber zugleich auch die Folgenlosigkeit des Nachdenkens, braucht man zum Trost beispielsweise einen Pokal, er kann natürlich auch aus Erbsenprotein nach Art von Wildschwein gemacht sein, das ist ja klar, und dennoch würden wir den Pokal aus Compliancegründen niemals annehmen, weswegen wir uns stattdessen mit Geschichten und Musik trösten wollen, in denen doch sowieso aller Trost der Welt liegt.

Einzug in die Trostrunde wäre wünschenswert

Eine Hamburger Amateur-Tennisspielerin hat mir die Geschichte ihres bislang größten sportlichen Erfolgs erzählt, errungen am vergangenen Wochenende: Da unterlag sie zwar schon in der 1. Runde einer übermächtigen Gegnerin, zog aber immerhin in die Trostrunde ein. Drei Matches musste sie dort überstehen, überstand das erste, weil die Gegnerin unpässlich nicht antreten konnte, überstand das zweite, weil die Gegnerin krank nicht antreten konnte, überstand das dritte, weil die Gegnerin aus gesundheitlichen Gründen nicht antreten konnte. So hat meine Hamburger Lieblingstennisspielerin mit der Gesamtbilanz von einer Niederlage einen würdevollen Pokal gewonnen. Man wünschte sich doch eigentlich am Ende jedes Tages, man könnte in die Trostrunde einziehen.

Ich bin sehr traurig: In dieser Woche wurde bekannt, dass der langjährige Bassist der wundervollen Rockband Element of Crime gestorben ist, David Young, im Alter von 73 Jahren. Eigentlich war er Tonmeister, Produzent, Aushilfsgitarrist der Band, aber als ihr vor 20 Jahren wieder einmal ihr Bassist absprang, nahm er eben, da er ja nun einmal da war, auch noch dieses schöne Instrument in die Hand, das immer so viel Erhabenheit in die Rockmusik bringt.

Kleiner Trost, der in allen Liedern liegt

Man müsste ein Experte sein, um seinen musikalischen Beitrag zur Brillanz von Element of Crime angemessen zu würdigen, aber auch als bloßer Liebhaber und Laie konnte man sich an David Young glücklich sehen; hören sowieso, aber eben auch sehen, wie er so stand auf der Bühne, weitgehend reglos, hin und wieder eine Saite zupfend, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet, in der vielleicht die Göttlichkeit der Musik ihren Sitz hat. Sie empfinden zu können - es ist wohl nichts Schöneres und Tröstlicheres denkbar auf Erden.

Auch von Lars Vogt, dem großen Pianisten und Dirigenten, von dem wir uns diese Woche verabschieden mussten, sagen die, die ihn kannten: Er hat in den 52 Jahren seines Lebens das Größte geschafft, was man schaffen kann, er hat das Glück gefunden, das Glück der Musik. Das ist der kleine Trost, der in allen Liedern liegt, vielleicht, na gut, meinetwegen, wenn es sein muss, auch in "You’ll never walk alone".

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NachGedacht

Unsere Kolumnisten lassen die Woche mit ihren Kulturthemen Revue passieren und erzählen, was sie aufgeregt hat. Persönlich, kritisch und gern auch mit ein wenig Bösartigkeit gespickt. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 09.09.2022 | 10:20 Uhr

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