Stefan Gerdes über 70 Jahre NDR Jazzredaktion
Redakteur Stefan Gerdes erzählt über die 70-jährige Geschichte der NDR Jazzredaktion und stellt wichtige Persönlichkeiten und innovative Projekte vor.
1952: Die Bundesrepublik ist jüngstes Mitglied des Internationalen Währungsfonds (IWF), das Land Baden-Württemberg wird gegründet, das erste Jugendschutzgesetz tritt in Kraft. Im Fernsehen hat die "Tagesschau" Premiere, am Kiosk liegt die erste Auflage der "Bild"-Zeitung aus. Kurz nachdem in New York Ernest Hemmingways "Der alte Mann und das Meer“ erschienen ist, detoniert im pazifischen Ozean die erste amerikanische Wasserstoffbombe.
In diesem bewegten Jahr wird im Hamburger Funkhaus (im damaligen NWDR, aus dem später NDR und WDR hervorgehen) die Jazzredaktion gegründet. Ihr erster Leiter ist der studierte Germanist und Theaterwissenschaftler Hans Gertberg. Im März 1953 kommt mit dem Trompeter Dizzy Gillespie bereits der erste prominente Besuch ins legendäre "Studio 10", dem heutigen "Rolf-Liebermann-Studio".
Gertberg und Liebermann initiieren einen "Völkerbund in Sachen Jazz"
Jener Rolf Liebermann, bekannt als Komponist und Opernintendant, ist in den späten 1950ern Musikchef im NDR. Auf seine Anregung bringt Hans Gertberg 1958 mit den NDR Jazzworkshops ein bahnbrechendes Konzept auf die Bühne: Musiker unterschiedlicher Herkunft und Stilistik treffen aufeinander, proben einige Tage lang und stellen dem Publikum das Ergebnis in einem Radio-Konzert vor. Einen "kleinen Völkerbund in Sachen Jazz" wünscht sich der Redakteur und lässt das erstaunte Publikum Mitte der 1960er Jahre im ersten Ost-West-Workshop einen Blick hinter den "Eisernen Vorhang" werfen.
Parallel dazu baut Hans Gertberg schrittweise das Radioprogramm aus. Eigentlich ist es ein Neuanfang, denn die Ächtung und Verfolgung des Jazz durch die Nazis hinterlässt für lange Zeit eine große Lücke. "Die Archive waren noch frei von dieser "Schmuddelmusik". Sie standen fast leer. Froh war man als junger Rundfunkautor, wenn einem ein freundlicher Engländer aus dem BFN-Archiv einen Hit für die Rothenbaumchaussee auslieh." So wird sich später Werner Burkhardt (1928-2008) an diese spannende Aufbruchszeit erinnern.
Die Ära des Goldgräbers Michal Naura
Burkhardt gestaltet den Sound der NDR Jazzredaktion über Jahrzehnte mit, an der Seite von anderen großartigen Autoren. Einige von ihnen - wie Peter Niklas Wilson, Konrad Heidkamp, Jens Sülzenfuß oder Ekkehard Jost - sind leider nicht mehr unter uns. Sie alle haben die lange Ära von Michael Naura geprägt. Der Pianist und begnadete Wort-Skulpteur wird 1971 Jazzredakteur und folgt auf Gertberg, den Jazzpädagogen alter Schule, der sein Publikum auch schon mal liebevoll vor allzu neuen Tönen warnt ("Achtung, Free Form Jazz!").
Fast dreißig Jahre lang, bis Ende 1999, leitet Michael Naura die Redaktion. Er lebt und arbeitet mit Leidenschaft und schreibt gerne markig ("Die Jazzredaktion ist ein knorriger Olivenbaum, an dem sich allerliebste Wildschweine scheuern."). Am liebsten gräbt er nach Gold. Seine Nuggets sind legendär. Damals sind sie zum Glück noch leicht zu bekommen: Pat Metheny zum Beispiel oder Chick Corea, Al Jarreau, Keith Jarrett und Jan Garbarek. Sie alle haben unvergessliche Ton-Spuren im NDR hinterlassen, um die uns viele Funkhäuser in Europa beneiden.
Das neue Jahrtausend in der NDR Jazzredaktion
Seit dem Jahr 2000 knüpfen wir genau dort an und machen munter weiter - im Radioprogramm wie im Konzertsaal. Wir suchen, entdecken und begleiten neue Talente, die in der jüngeren Geschichte Stefano Bollani, Julia Hülsmann, Omar Sosa, Eva Klesse oder Emile Parisien heißen. Im Archiv müssen ihre Aufnahmen immer enger zusammenrücken. Unsere Radio-Konzerte im Rolf-Liebermann-Studio sind eine einzige Erfolgsgeschichte: 2005 konnten wir die Anzahl der Konzerte verdoppeln, fast alle sind ausverkauft.
Die Anzahl der Festivals im Sendegebiet des NDR hat sich sogar vervielfacht. Was in den 1970ern recht gemütlich im Onkel Pö und der FABRIK begann, ist zu einem Ritt über die norddeutsche Landkarte geworden. Die Karawane unserer Übertragungswagen zieht heute von Hannover nach Rostock, von Neumünster nach Eldena, von Elbjazz zur JazzBaltica. Überall ist auch die NDR Bigband eine feste Größe, die sich in den vergangenen Jahrzehnten unter der Regie von Wolfgang Kunert und Axel Dürr zum Weltklasse-Solistenensemble entwickelt hat.
Ein Spiegel der Gesellschaft
Schon immer ist Jazz grenzenlos, ein Hybrid und damit das ideale Medium eines sich globalisierenden 20. Jahrhunderts. Jazz steht für die positiven Seiten dieser Entwicklung, denn nur wenn man sich wirklich aufeinander einlässt, wird die Begegnung mit dem Anderen ein Gewinn und das "Fremde" vertraut. Diesen Spuren nachzugehen - ob im Tango, Salsa, Samba, Flamenco oder Pop - ist eine unserer liebsten Aufgaben. Eine andere ist, die Themen unserer Zeit im Spiegel des Jazz zu betrachten: Identität, Gender, Migration, Black Lives Matter…
Grenzenlos ist auch die Zahl neuer Aufnahmen. Im digitalen Zeitalter kann jede frisch gegründete Band aus dem Heimstudio direkt auf den Markt gelangen. Wo und wie sollen sich Publikum und Hörerschaft da noch orientieren? Im Internet ist alles permanent verfügbar, allerdings meist wahllos und oberflächlich und damit ohne Bedeutung. Günstige Streamingdienste haben den Tonträgermarkt ins Schleudern gebracht. Seit 2020 setzt die Pandemie dem Konzertwesen auf existenzielle Weise zu. Aus solchen gesellschaftlichen Herausforderungen erwachsen immer wieder neue Aufgaben für eine Jazzredaktion.
"Keine Musik vom Fließband" - Sendungen der NDR Jazzredaktion
In unseren Sendungen "Play Jazz!" und "Round Midnight" setzen wir auf Qualität statt Quote, auf Autorenschaft statt Algorithmen. Mehr als 450 Sendungen bestreiten Expert*innen wie Sarah Seidel, Thomas Haak, Mauretta Heinzelmann, Ralf Dorschel, Michael Laages, Henry Altmann oder Marianne Therstappen pro Jahr auf NDR Kultur - mit Musik von den internationalen Stars bis zum heimischen Nachwuchs, vom "Big Apple" bis zu den Clubs und Festivals im Sendegebiet. Jeder Tag beginnt mit der Suche nach neuen Themen und nach aufregender Musik. Jede Sendung will informieren, unterhalten und anregen.
Darin liegen die Kraft und die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Radios: kritisch gegen den Mainstream anschwimmen, dabei ab und zu Wasser schlucken und im Idealfall den anderen ein paar Schwimmzüge voraus sein. Im Dickicht der Ereignisse das Besondere herausfiltern, Publikum und Bands zusammenbringen; die junge, kreative Jazz-Szene im Norden fördern und dabei auch selbst Trends setzen. "Keine Musik vom Fließband" - das hatte schon der erste Redakteur Hans Gertberg seinen Hörer*innen präsentieren wollen. Dem schließen wir uns heute, 70 Jahre später, gerne an.