CD-Cover "Copmassion" von Vijay Iyer © ECM Records
CD-Cover "Copmassion" von Vijay Iyer © ECM Records
CD-Cover "Copmassion" von Vijay Iyer © ECM Records
AUDIO: Play Jazz - Magazin am Freitag (61 Min)

Mit Kunst gegensteuern

Stand: 08.02.2024 13:20 Uhr

Mit "Compassion" erschaffen Vijay Iyer und sein Trio in Zeiten globaler politischer Zerrissenheit ein Album, das gleichzeitig musikalischen Halt gibt als auch einen Appell zum Handeln aussendet.

von Ralf Dorschel

Er mache "Kunst in Zeiten des Leidens" so sagt Vijay Iyer und will mit seiner Musik gegensteuern, will auch politische Zeichen setzen. "Uneasy" - also unbehaglich, aber auch: unruhig - hieß sein vorheriges Album und der Freiheitsstatue rückten auf dem Cover die Wolken bedrohlich nah.

Man kann "Compassion" nun getrost als Fortschreibung dieses Albums verstehen: in der Besetzung mit der Bassistin Linda May Han Oh und dem überlebensgroßen Drummer Tyshawn Sorey. Aber auch beim kreativen Prozess. Iyer ist Mathematiker, Physiker und hat über Musikpsychologie promoviert - Schwerpunkt: die Musik der schwarzen Diaspora. Und nichts an seiner Musik ist zufällig, ist spontan - Improvisation, so sagt der US-Pianist, sei ein Konstrukt des westlichen Denkens und eine Falle.

Das Hadern mit der Welt

Dem setzt Iyer ein durchaus komplexes Bild entgegen: Die Spannung, die aus seinem Hadern mit der Welt entsteht, präge seine Arbeit so sagt er. Und wenn die soziale und politische Lage in den USA, im Westen und global nunmal ein zerrissenes Schlachtenbild ist - wie soll er dies nicht in seiner Musik ausdrücken?

Iyers neue Stücke reichen vom düsteren "Maelstrom", Teil eines Liederzirkels für die Opfer der Pandemie, über Roscoe Mitchells nervös-dissonantes "Nonaah" bis hin zu einem überschwenglichen Blick auf Stevie Wonders "Overjoyed". Und sie sind politisch: "Arch" ist dem südafrikanischen Menschenrechtler Desmond Tutu gewidmet, das hinreißend schöne Solo "It Goes" denkt über das Leben von Emmett Till nach, wie es hätte verlaufen können, wäre der Jugendliche nicht 1955 von einem Rassisten-Mob gelyncht worden. Auch diese Themen sind eine Fortschreibung von "Uneasy", wo Iyer Musik für Black Lives Matter-Proteste geschrieben hatte und ein Stück für die meist schwarzen Kinder der US-Stadt Flint, die vergiftetes Trinkwasser in den Leitungen hatten.

Ein Meilenstein des zeitgenössischen Jazz

Dass dieses Trio auch nur eine Etappe auf seinem musikalischen Weg ist, betont Iyer gern. Muss er auch, denn diese beiden Alben mit Linda May Han Oh und Tyshawn Sorey sind Meilensteine in der Geschichte des zeitgenössischen Jazz - auf denen alle drei Künstler:innen grooven und schwärmen, ringen und sich reiben.

Sie hätten diese Musik gemeinsam entwickelt, so schreibt Iyer und spricht in Bezug auf diese Zusammenarbeit von "purposeful action", von entschlossenem Handeln. Dass mit einer erstaunlichen Sicherheit vom festen Tanzboden in den Treibsand führt - ohne dabei eine Sekunde inkohärent zu wirken. Er mache seine Musik mit, für und inmitten von Menschen, so sagt Iyer und will mit seiner "Compassion" Halt geben und einen Appell zugleich aussenden. Beides gelingt auf diesem großen Album meisterhaft.

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"Compassion"

Genre:
Jazz
Label:
ECM
Veröffentlichungsdatum:
02.02.2024
Preis:
19,99 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Play Jazz! | 12.02.2024 | 22:33 Uhr

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