Herbie Hancock in Hamburg: Der Meister und sein Spezialpublikum
Herbie Hancock und sein Quartett haben sich in Hamburg durch 60 Jahre Musikgeschichte gespielt. Beim Stadtpark Open Air am Dienstag ging der Meister nicht nur mit seinem Tasteninstrumenten, sondern auch mit dem Publikum virtuos um.
Wie ist das eigentlich, auf die Bühne zu gehen? Wenn man 82 Jahre alt ist, mit mehr als 14 Grammys ausgezeichnet wurde, abertausende Shows mit Stars wie Miles Davis, Annie Lennox und Carlos Santana und zig anderen gespielt hat? Mit der Erfahrung und dem Selbstbewusstsein eines Musikers, der die aktuelle Musik seit Jahrzehnten mitbestimmt?
Herbie Hancock: "Achtung! Es wird sehr schräg werden!"
Dass Herbie Hancock Tasteninstrumente aller Sorten hervorragend spielt, weiß man. Genauso virtuos geht er auch von Anfang an mit dem Publikum um: "Solange hier noch Leute rumlaufen, kann ich auch sprechen", sagt Hancock und schiebt ein hexemeisterartiges Lachen hinterher. Ein Gott des Jazz erklärt den Hamburger Stadtpark-Open-Air-Besuchern das Prinzip der Ouvertüre. "Erst mal von allem ein bisschen, dann später ausführlich" kündigt er an. Um dann zu warnen: "Achtung! Es wird sehr schräg werden!" Dies löst wenig Regung im sommerlichen Proseminar aus. "Die Leute in Berlin haben das wohl lieber gemocht", sagt der Meister mit strengem Blick - und sorgt für Heiterkeit. Dass jemand sein Publikum lange vor dem ersten Ton so kontrolliert, ist sehr selten.
Das Quartett des Herbie Hancock rast durch mindestens 60 Jahre Musikgeschichte. Bebop, Fusion, R'n'B, Discofunk - Hancock hat und hatte zu all diesen Musiksprachen etwas beizutragen. Und beweist, wie nebenbei, dass er sich auch in den flirrenden Harmonien von dem klassischen Impressionisten Maurice Ravel oder eines Igor Stravinsky bewegen kann.
Konzert im Hamburger Stadtpark: die perfekte Musikshow
Bei all dem darf man nicht vergessen: Der elfjährige Herbie Hancock hatte sein Debüt mit Mozart (Klavierkonzert Nr. 5) und dem Chicago Symphony Orchestra. Doch für afroamerikanische Klaviergenies war in den USA der 50er-Jahre kein Platz. Für einen schwarzen Komponisten noch weniger. Fast wirkt es, als wolle Hancock auch heute beweisen, dass er alle Register ziehen kann: Effektive Instrumentation, außerirdische Harmonien, den hypnotischen Groove, die perfekte Musikshow. Und anders als bei den späten Tourneen von Soul-, Pop- oder Rocklegenden hat das hier gar nichts verklärt-Nostalgisches. Hier spielt jemand, der ein Musikjahrhundert überblickt und mühelos an Flügel und Synthesizer zusammenfassen kann.
"Da muss man die ganze Zeit dabeibleiben! Da passiert ständig was!" erzählt Konzertbesucher Peter Hein, immer noch mit konzentriert-beseeltem Glanz in den Augen. Mit zwei Freunden ist er aus dem Bremer Umland angereist. Die Drei kennen einen ganz anderen Hancock als die jüngeren Besucher im Publikum. Die ultra-entspannten Herbie-Grooves haben als Samples auch mehrere Jahrzehnte des Hip Hop geprägt. "Ich wusste, dass er diese Musik liebt!" sagt Anna, die ihren Freund Winston ausführt. "Herbie muss man einfach sehen!"
Drummer Justin Tyson: Alle paar Takte eine neue Klangwelt
Wie legt der Mann im schwarzen Talar ein Band der Begeisterung um dieses diverse Publikum? Hancocks wichtigste Gabe ist seine Neugier. Er liebt sie, die jungen Hochbegabten der Musik, fördert sie, hat seine Ohren nie geschlossen. Nicht umsonst ist der Schlagzeuger Justin Tyson der Jüngste in der Band. Der Beat der Drums bestimmt die Zeit und ihre Musik. Tyson trommelt sich und das Quartett alle paar Takte in eine neue Klangwelt. Dabei beherrscht er die Maschinensprache aktueller Hip-Hop-Beats genauso wie die hochkomplizierten Rhythmen des Hancock-Spätwerks. Ganz, als würde der Große sachte in Richtung Robert Glasper oder Flying Lotus, zwei jüngere Vertreter dieses Stilmixes, winken und wispern: "Rap haben Miles Davis und ich auch schon gekannt!".
Das Quartett wechselt seine Farbe wie das "Chameleon", Hancocks gewaltige Funk-Fantasie von 1973. Gerade erst völlig entrückt in den abtrünnigsten Harmonien seines Vocoders, den natürlich er, nicht irgendwelche Chers entdeckt haben, holt Herbie das Publikum schnell wieder ab, mit ein paar Takten eines Welt-Hits: "Cantaloupe Island". Die Reihen sind geschlossen.
Viele Zuschauer lieben das überdreht Virtuose
Gitarrist Lionel Loueke schafft die Verbindung von US-Jazz und Blues nach Westafrika. Er spielt wirklich, wie Bandleader Hancock sagt: "Wie kein anderer auf diesem Planeten!" Die überirdische Technik eines Flamenco-Gitarristen mit dem Know-How einer Jazz-Harmonie-KI: überwältigend virtuos.
Bassist James Genus legt den Groove so sicher, als hätten ihn Riesen in den Bühnenboden gerammt. In seinen Soli zeigt er dann aber auch die Grenzen dieses hypervirtuosen Jazz. Wer möchte wirklich minutenlange Tapeloops pfeilschneller Basstöne hören? Sie verwandeln den Stadtpark in einen Mumpfsumpf. Aber doch: Viele im Publikum lieben genau das überdreht Virtuose. "Hier sind einfach viele, die selber ein Instrument spielen", erzählt ein Mitglied eines Irish Folk Trios aus Niedersachen. "Auch wenn man nicht genau die Musik macht, ist das einfach überirdisch!"
Gewitter mit "Keytar" - und Luftsprünge
Zum Finale zaubert Hancock noch ein unglaubliches Gewitter mit dem "Gitarrensynthesizer" (Keytar), diesem Instrument aus den 80er-Jahren, das man sonst nur von Modern Talking und der Münchener Freiheit kennt. Danach zeigt er noch diverse sportliche Sprünge und Ballett-Pirouetten und ruft: "Ich bin doch noch nicht alt, liebes Hamburg!" Dann geht der Meister ohne Zugabe ab.
"Das war die schlechteste Show, die ich jemals hatte" sagt ein Security-Mann, der heute an der Bühne Dienst hat. Sein Gesicht: großveranstaltungsgegerbt. "Was sind 1.400 People gegen Madonna oder Lady Gaga? Da kommt nichts rüber." Auch das gehört zur Wahrheit. Herbie Hancock, dieser Großmeister der Musik, zieht letztlich auch nur ein hochinteressiertes Spezialpublikum. Und dennoch: Auch einige Hundert Menschen können gemeinsam große Konzertereignisse erleben!