Bei Nacht ist aus der Froschperspektive eine leuchtende Straßenlaterne in Hannover zu sehen. © NDR Foto: Julius Matuschik

Spaziergang mit Straßenlaterne: "Shouldered Streetlight" in Kiel

Stand: 28.08.2022 14:52 Uhr

Der Yachthafen in Kiel-Schilksee war 1972 Austragungsort der olympischen Segelwettkämpfe. Mit einem Kulturprogramm feiert Kiel das 50. Jubiläum dieses Ereignisses, u.a. mit einer Lichtkunstaufführung.

von Andrea Richter

Ein sonniger Spätnachmittag im Yachthafen Kiel-Schilksee. Weiße Sportboote schaukeln sanft auf den Wellen, das Wasser glitzert im Licht der tief stehenden Sonne. Ein großer kräftiger Mann mit kinnlangem Haar und sonnengebräuntem Gesicht - in blauem Hemd und schwarzen Arbeitsschuhen - geht über den Steg, der zu einem schlichten hohen Bau mit Treppenaufgang führt. In etwa 15 Metern Höhe thront das Gestänge, auf dem 1972 die olympische Flamme brannte. "Da wollte ich herum. Und dann muss ich überlegen, wie ich die olympische Flamme mit einbeziehe", überlegt der Künstler Jan Philip Scheibe. "Ich glaube, ich werde da hinterher hochgehen. Dann werde ich an der ehemaligen olympischen Flamme enden."

Lichtperformance "Shouldered Streetlight" im Olympiazentrum Kiel

Während der knapp zwei Stunden dauernden Performance "Shouldered Streetlight" wird er eine 35 Kilo schwere Straßenlaterne durch das Olympiazentrum tragen, vorbei an den Olympiabauten, den Beton-Querriegeln, dem Hotel Olympia und weiter an den Förde-Strand. An vorher ausgesuchten Orten stellt er sie ab und verharrt schweigend im Licht der Laterne. Die knapp zwei Stunden dauernde Aufführung beginnt in der sogenannten blauen Stunde und endet in kompletter Dunkelheit.

"Ich gucke vorher ganz grob auf Google Maps, was es für Wege gibt, recherchiere ein bisschen über die Geschichte und lasse mich dann treiben", erklärt Scheibe. "Das heißt, ich habe eine Mindmap im Kopf und gucke, was spannend ist. Manchmal muss ich drei, vier Mal gehen, bis ich den Weg fertig habe. Was aber während der Performance, während des Ausgangs mit der Straßenlaterne passiert - wo ich mich hinstelle, wie ich auf den Ort reagiere -, das lege ich vorher nicht fest. Das funktioniert spontan."

Jan Philip Scheibe: Lichtperformances seit 2009

Seit 2009 zeigt Scheibe Lichtinstallationen im öffentlichen Raum - in den skandinavischen Ländern, wo man das Licht oft lange vermisst, auf Island, in Finnland oder Lappland, einmal auch auf Lanzarote. Manchmal mit wenig Publikum, dann wieder vor einer großen Menschentraube.

"Ich habe mich einmal im Berliner Tiergarten verlaufen, weil da ein Absperrgitter war, das vorher noch nicht da war. Und dann stand ich auf einmal vor einem ganz anderen Haus und musste mich fragen: Wie komme ich denn zurück zum Haus der Kulturen? Da gab es ein ganz schönes Miteinander. Jeder meinte, den besseren Weg zu kennen, und dann wurde erst mal abgestimmt, wo man jetzt herzugehen hat."

Olympia-Betonwüste als Erinnerungslandschaft

Unter dem Hashtag #shoulderedstreetlight finden sich auf Instagram atemberaubende Landschaftsaufnahmen - Fotos von Aufführungen in Finnland, Schweden oder Spiekeroog. Hier in Kiel-Schilksee gibt es kaum mehr natürliche Landschaft. Die Architektur der 70er-Jahre mit ihrer funktionalen, schmucklosen Betonbauweise wirkt auf den ersten Blick trostlos. Das Olympiabecken - von außen durch riesige Glasfenster einsehbar -, jetzt ohne Wasser; ein vertrockneter Benjamin in der "Geburtstagsecke" als einziges Relikt, das an Natur erinnern könnte. Der Künstler wird hier Station machen und die Laterne abstellen: "Da an diesem Wahnsinnsschwimmbad. Wo jeder, der in den 70er-Jahren aufgewachsen ist, sofort weiß, wie es roch, wie muffig die Umkleiden waren und die Duschen. Und wie es war, Seepferdchen zu machen. Es ist eine Erinnerungslandschaft für mich", sagt Scheibe.

Lichtkunst-Performance als künstlerische Übersetzung

Carola Kemme, Leiterin des Kulturbüros Kiel und Kuratorin, hat Scheibe eingeladen, weil sie sich eine neue Perspektive auf den inzwischen denkmalgeschützten Stadtteil erhofft: "Das sind Architektur- und Wohnkonzepte der 60er- und 70er-Jahre gewesen, die eine bestimmte Vorstellung davon hatten, wie Gesellschaft miteinander kommuniziert, lebt, wohnt und arbeitet. Das Besondere an Schilksee ist, dass es trotz Beton gar nicht so wuchtig wirkt", sagt Kemme. "Hier ist das alles sehr schön in die Fläche gezogen und mit dem Meer hat das eine unglaublich gegenwärtige Aktivität und Lebendigkeit. Durch die Lichtkunst-Performance haben wir uns erlaubt, jemanden einzuladen, der mit einer künstlerischen Übersetzung an den Stadtteil ran geht. Nicht mit Worten, sondern mit einer räumlichen Erfahrung, mit einer Betrachtung. Mit den Sinnen nehmen wir im Grunde diesen Stadtteil jetzt wahr."

"Bis zur Laterne darfst Du gehen!"

Mit der untergehenden Sonne erscheint das Publikum: 35 Menschen, die sich vom Lichtkünstler durch die Dunkelheit führen lassen wollen. "Ich hatte mal einen mitlaufenden Pastor, der auf Spiekeroog bei einer Performance dabei war", erzählt der Künstler. "Er hat mir hinterher eine E-Mail geschrieben, dass er dieses Bild vom Mann mit dem Licht in seiner Sonntagspredigt aufgenommen hat: Du sollst dein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Das gilt ja für jeden: Strahle aus dir hinaus, sei das Licht! Und wenn du das Licht nicht in dir hast, dann suche danach. Suche nach dem Licht, sucht nach dem Strahlen. Mir haben Leute gesagt, dass das das Traurigste gewesen ist, was sie gesehen haben. Andere haben sich aufgehoben und wohlgefühlt in diesem Licht."

Die Laterne in der Straße, in der er als Kind zu Hause war, sei der Ausgangspunkt für seine Performance gewesen, erzählt der Lemgoer: "Bis zur Laterne darfst Du gehen!", habe seine Mutter ihm als kleiner Junge eingebläut. Die große weite Welt - sie lag dahinter und schien ihm unerreichbar. Die Performance "Shouldered Streetlight" birgt eine eindrucksvolle und gleichzeitig humorvolle Erzählung über Grenzen und wie man sie überwinden kann. Sie wird am 1.September 2022 ab 20.30 Uhr noch einmal aufgeführt. Da die Teilnahme auf circa 30 Personen begrenzt ist, sollte man sich vorher anmelden.

Spaziergang mit Straßenlaterne: "Shouldered Streetlight" in Kiel

Kiel war 1972 Austragungsort der olympischen Segelwettkämpfe. Zum 50. Jubiläum gibt es eine Lichtkunstaufführung von Jan Philip Scheibe.

Art:
Aktion
Datum:
Ende:
Ort:
Hafenmeistergebäude des Olympiazentrums
Soling 38
24159 Kiel
Preis:
Eintritt frei
Hinweis:
Anmeldung unter 0431-9013408 oder per Mail an kulturbuero@kiel.de.
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 28.08.2022 | 07:40 Uhr

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