Schauspieler auf der Bühne des Thalia Theaters © Fabian Hammerl/Thalia Theater Foto: Fabian Hammerl

"Apocalypse Tomorrow": Weltuntergang im Thalia Theater

Stand: 01.02.2024 09:48 Uhr

von Peter Helling

Der Weltuntergang wird im Thalia in der Gaußstraße verschoben und hat noch eine Stunde Zeit. Zeit genug, um verpasstes Glück nachzuholen. Zeit für die Gruppe "Kirill & Friends", ein Stück Weltuntergangstheater auf die Bühne zu setzen. Das Ensemble hat sich nach dem russischen Exil-Regisseur Kirill Serebrennikov benannt.

Was würden Sie tun, wenn Sie wüssten, in 60 Minuten ist alles vorbei? Schweigen, Tanzen, mit Ihren Liebsten eine Pasta essen - oder das berühmte Apfelbäumchen pflanzen, wie Luther empfahl? Hier ist die Bühne ein ganzes Gewächshaus. Auf fahrbaren Gerüsten stehen Bananenstauden und Gummibäume. Davor eine Couch, ein paar Stühle und sechs zusammengewürfelte Menschen zwischen sexuell ausgehungert, Drogen-Exzess und kaltem Entzug. Nebel wabert.

Kein Platz für Zwischenräume im Stück

Im Angesicht der gewonnenen Zeit sucht einer verzweifelt nach Sex. Er zeigt es ziemlich deutlich mit zuckenden Hüftbewegungen. Schnell wird klar, da findet ein schwuler Mann zur eigenen sexuellen Identität. Eine Frau spielt die Schlager aus der Kindheit nach und erkennt: Sie hat sich nie schön gefühlt. Es sind Versatzstücke aus Text, aus Tanz, aus Akrobatik. Gesprochen wird meistens Englisch.

Nur sind die menschlichen Wünsche wirklich so eindimensional? Ein Zuschauer findet: "Es war keine Handlung erkennbar. Das Thema, dass die Welt in einer Stunde untergeht, ist nach meinem Dafürhalten nicht schlüssig dargestellt." Für Vieldeutigkeit und Zwischenräume ist hier kein Platz. Regisseur Evgeny Kulagin und Choreograf Ivan Estegneev erzählen überdeutlich von der finalen Torschlusspanik: Hier herrscht immer Überdruck im Kessel, alles zuckt, drängt, schreit, presst. Sie gleiten über den nassen Boden.

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Das Hamburger Thalia Theater von außen. © Thalia Theater

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Alles ist Exzess und extrem künstlich

Einer stopft sich Grünzeug in die Unterhose und schreit, er hätte es vermasselt, bis es wirklich alle verstanden haben. Alles ist Exzess! Nur alles mit Sicherheitsgurt, extrem kontrolliert, extrem künstlich und ästhetisch. Viel nackte Haut, viele Muskeln, schöne Körper. Diese Mischung sieht vortrefflich aus, erzeugt aber kein Mitgefühl, kein Mit-Beben mit diesen sechs allerletzten Menschen kurz vor dem Weltuntergang. Und das wirkt ganz schön eitel.

Spannend ist, dass im Publikum eine große ukrainisch-russische Fangemeinde sitzt. Für einige Besucher ist das Stück der russischen Exil-Künstler von "Kirill & Friends" künstlerische Heimat: "Wir kommen eigentlich aus Moskau, aber wir wohnen hier schon seit Ewigkeiten. Wir sind einfach froh, dass wir unsere Kultur hier in Hamburg geniessen können." Einen Moment gibt es, da gelingt die Fusion aus Energie und Poesie: Da wünscht sich eine Darstellerin, endlich mal weinen zu können. Die andern sollen ihr Tränen leihen. Wie die ihre Augen auspressen, um etwas Rührung herzustellen, das berührt tatsächlich. Ansonsten ist diese Apokalypse zu schön, um wahr zu sein.

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Im Rahmen der Hamburger Lessingtage hat das Stück um den russischen Exil-Künstler Kirill Serebrennikov in der Gaußstraße Uraufführung gefeiert.

Art:
Bühne
Datum:
Ort:
Thalia in der Gaußstraße
Gaußstraße 190
22765 Hamburg
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Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | Kulturjournal | 31.01.2024 | 19:00 Uhr

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Theater

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