"Mystische Fauna - Von der Liebe der Tiere": Roman von Marica Bodrožić

Stand: 20.09.2023 06:00 Uhr

Tiere übernehmen in den Büchern von Marica Bodrožić immer auch die Aufgabe, herausfinden zu helfen, wie es um uns Menschen steht. Das ist auch in ihrem neuen Buch "Mystische Fauna - Von der Liebe der Tiere" so.

von Joachim Dicks

Vorsicht! Schon beim Titel! Er klingt harmlos, nicht wahr? "Mystische Fauna - Von der Liebe der Tiere". Jedes einzelne Wort für sich genommen: ein Inbegriff von Frohsinn und Zuversicht. Mystik, Fauna, Liebe, Tiere. Aber es kommt anders! Vorsicht. Denn zunächst einmal nimmt uns die Ich-Erzählerin mit auf eine Reise in die "Unterwelt ihrer Erinnerungen". Ausgelöst wird alles durch einen Hund auf La Gomera. Die Ich-Erzählerin soll für einige Monate auf ihn aufpassen. Innerhalb sehr kurzer Zeit bringt Inselito, so der Name des Hundes, Kindheitserinnerungen in ihr zum Vorschein, die wie Traumata tief verschüttet waren. In ihrer in Dalmatien verbrachten Kindheit gab es auf dem Hof ihres Großvaters schon einmal einen Hund. Er hieß Chio. Aber dem ist es nicht gut ergangen:

Blitzartig sah ich eine große Hand vor meinem inneren Auge. Es war die Hand meines Großvaters. Ein großer schöner Stein war in dieser großen starken Hand. (…) Der Stein schlug zu. Immerzu. Schlug und schlug. (...) Ich bin an der Schwelle. Da stehe doch ich an der Schwelle, sage ich mir, ich bin dort nicht unbekannt, es ist das Haus der Kindheit (…). Der Hund der Kindheit. Der liebste Mensch der Kindheit. Das Blut der Kindheit. (…) Ich will nicht, dass es blutet, ich will nicht, (…) dass mein Herz das sieht, was mein Auge gesehen hat. (…) Doch mein Herz sieht es. Und mein Ohr hört ganz deutlich das heulende Tier. (…) Es leidet Not. Ich stehe an der Schwelle und sehe das. Und ich kann nicht helfen, ich bin ein Stein. Leseprobe

"Warum hast du gemordet?"

"Mystische Fauna" ist ein Bekenntnisbuch. Es ist, als wolle die Erzählerin die schrecklichsten Dinge, die ihr im Leben widerfahren sind und die sie selbst begangen hat, öffentlich beichten, um endlich von ihnen loszukommen und sich von ihnen zu befreien. Mit Milde und Einfühlungsvermögen stellt sie ihrem längst verstorbenen Großvater, der Tieren gegenüber sehr grausam war, die bedrückende Frage:

Du bist nicht mehr am Leben, aber ich muss es dennoch sagen, mein liebster Mensch der Kindheit, warum hast du gemordet? - Doch nicht nur der liebste Mensch der Kindheit, sondern auch ich, der Mensch meiner eigenen Kindheit, bin zugegen, als die Tat geschieht. Ich muss mitmachen. Ich mache mit. Leseprobe

Vom Mitläufertum und Komplizenschaft

Marica Bodrožić schaut sich diese Mechanismen des Mitläufertums und der Komplizenschaft ganz genau an. Wann auch immer wir Zeugen von Gewalt geworden sind oder es möglicherweise werden, tun wir gut daran, sie uns anzuschauen. Verdrängung ist keine Option! Und so geschieht es beim Lesen ganz beiläufig, dass sich zu den Erinnerungen der Autorin auch eigene einstellen. Wann waren wir Zeugen, als Tiere misshandelt worden sind und sind nicht eingeschritten? Wann haben wir selbst Tiere gequält? Und wie hängt diese Gewalt zusammen mit der Gewalt unter Menschen? Von ihrem zehnten Lebensjahr lebt die Ich-Erzählerin in Deutschland bei den Eltern. Das Verhältnis zur Mutter war, gelinde gesagt, sehr konfliktreich:

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mein allererster Gang zum Friseur diesen unermesslichen Mutterzorn auf mich laden wurde, und war zu Tode erschrocken über ihre mir keineswegs unbekannte Gewalt. Während sie mich schlug, beschimpfte sie mich, sagte immer wieder, du elender Hund, du Hund, du elender Hund. Ich hielt die Hände über den Kopf, weil ich das Gefühl hatte, sie oder dieser Zorn in ihr würde mir sonst etwas zerschlagen, meine Schädeldecke vielleicht, meine Stirn oder meine Augen verletzen. Irgendwann bemerkte ich, dass ich mich gar nicht schützen konnte, dass die Wucht der Schläge immer mehr zunahm und nichts meine Mutter daran hindern wurde, mit dem Schlagen weiterzumachen. Leseprobe

"Mystische Fauna": Ein feiner philosophisch-poetischer Text

Aus all diesen schmerzhaften Erinnerungen entsteht ein feiner philosophisch-poetischer Text, dessen Bestreben es ist: "ein Leben in Sanftmut und Freundlichkeit jenseits von Gewalt" zu erschreiben. Die Sprache, die uns in diese Geschichten hineinzieht, ist bei aller Härte im Detail selbst sanft und freundlich und jenseits von Gewalt. Zwischen den Zeilen flüstert uns dieses Buch zu: Wenn dir das Leben ausweglos erscheint, wenn dich deine Gedanken immer nur ins Dunkle führen, vergiss niemals: Auch du hast "Anteil am Leuchten der Welt". Auch ein gequälter Hund und ein erschlagener Esel führt die Liebe der Tiere und damit der ganzen Natur zu keinem Ende. Die Fauna ist mystisch, weil unergründlich. Es ist am Menschen, sich seiner Rolle in diesem großen Gefüge endlich bewusst zu werden.