Eine junge Frau hält eine Sonnenbrille in den Händen. © Aufbau Verlag

"Ich bin so gierig nach Leben" - Biografie Brigitte Reimann

Stand: 20.07.2023 11:34 Uhr

Brigitte Reimann gilt als eine der bemerkenswertesten Stimmen der DDR. Die Schriftstellerin wäre am Freitag 90 Jahre alt geworden. Carsten Gansel hat eine umfassende Biografie der früh verstorbenen Autorin geschrieben.

von Juliane Bergmann

Von Anfang an waren da Bücher um sie - in der verheißungsvollen Bibliothek des Vaters. Ihr Bruder Ludwig erinnert sich:

"So sie konnte, saß sie weltabgewandt und möglichst unbehelligt und las. Sie las alle Bücher, die ihr in die Hände kamen." Auszug: "Ich bin so gierig nach Leben"

Zuhause ist jede Lektüre erlaubt

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1933 geboren, wächst Brigitte Reimann auf in Burg in Sachsen-Anhalt, in einer kleinen Villa, Kirschbäume im Garten. Mit acht liest sie Shakespeare und Goethes "Faust". Zuhause ist jede Lektüre erlaubt. Der Schulstoff hingegen ist - unter Hitler - durchtränkt mit Ideologie, schreibt sie in einem Brief:

"Ich war bei Kriegsende elf Jahre alt, ich hatte noch gelernt, mit erhobenem Arm zu grüßen und den schwarzen Schlips korrekt zu tragen, wenig mehr." Auszug: "Ich bin so gierig nach Leben"

Hauptberuf Schriftstellerin: eine Lebensentscheidung

Hart sind die Nachkriegsjahre: Auch Familie Reimann lernt Armut und Hunger kennen. Brigitte beginnt, Tagebuch zu schreiben. Für die Schule verfasst sie kleine Theaterstücke, macht Frauen zu Hauptfiguren. Mit Kinderlähmung im Krankenhaus trifft sie 1947 die Lebensentscheidung, Schriftstellerin zu werden.

"Nicht nur nebenbei, sondern als Hauptberuf." Auszug: "Ich bin so gierig nach Leben"

Bislang Unveröffentlichtes entdeckt

Die Dichte dieser Biografie ist beeindruckend. Der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel gräbt sich tief hinein in das hochinteressante Leben von Brigitte Reimann. Er ist in Archive gegangen, hat Gespräche mit Weggefährten geführt, Zeitungen, Briefe, Tagebücher und Stasi-Akten ausgewertet und bislang Unveröffentlichtes entdeckt, zum Beispiel ihr Abitur: Mit ihrem Deutsch-Aufsatz über Heinrich Manns "Der Untertan" - für sie ein Leichtes - und mit ihrer entschlossenen Kreativität in Latein gelingt ihr gerade so der Abschluss. Die Beurteilung verblüfft:

Letztlich habe die Verfasserin eine "schwungvolle stilgerechte Übersetzung" geliefert, die die "Mängel ziemlich ausgleicht". Auszug: "Ich bin so gierig nach Leben"

Zunächst begeisterte, dann desillusionierte Sozialistin

Gansel stellt Zusammenhänge her, ordnet historisch und literaturwissenschaftlich ein und zeichnet Brigitte Reimanns Weg nach - von der zunächst begeisterten, später desillusionierten Sozialistin. Eine kühne Frau, die ihre Ziele kennt, ihre Vorbilder sucht, ihre vielen Männer liebt - und hasst.

1949 wird die DDR gegründet. Ein Leben im Umbruch, im Wechsel der Systeme. Immer wieder hinterfragt Reimann die Rolle des Schriftstellers im Sozialismus - zunehmend rebelliert sie gegen das ideologische Korsett, wenngleich sie der sozialistischen Utopie treu bleibt. Wir lesen von ihren Schreibkrisen, Depressionen, Selbstmordversuchen, von gewollten und ungewollten Schwangerschaftsabbrüchen. Ihren leichtfertigen Stasi-Beitritt bereut sie sofort.

"Vor allem sollte ich darauf achten, ob einer der Kollegen zuweilen ironische Bemerkungen während einer Debatte machte - versteckte Sarkasmen seien eine besonders gefährliche Form der Zersetzungsarbeit unter der Intelligenz." Auszug: "Ich bin so gierig nach Leben"

Eigener nicht "schwülstiger" Ton

Auf Drängen des Schriftstellerverbandes beendet die Stasi die Zusammenarbeit, beobachtet sie anschließend aber kritisch. Im Austausch mit anderen Schreibenden - Anna Seghers, Georg Piltz, Otto Bernhard Wendler, Christa Wolf - findet Reimann zum eigenen, nicht mehr so "schwülstigen" Ton, wie sie es nennt. Ihre Themen werden politisch: Klassenunterschiede, Emanzipation, DDR-Flucht, Denunziation. Das polarisiert, begründet aber auch ihren Erfolg. Sie interessiert die Lebenswirklichkeit der Menschen im Sozialismus, sie arbeitet und schreibt deshalb im Braunkohlekombinat "Schwarze Pumpe Hoyerswerda".

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Sachlich, aber dennoch aufwühlend

Gansel bleibt in seinen Schilderungen angenehm sachlich, mitunter wühlt diese Biografie dennoch auf. Reimanns letzte Jahre sind produktiv, trotz all des Schmerzes: Die dritte Ehe scheitert, ihr Krebs ist unheilbar. Im Jahr 1973 stirbt sie mit nur 39 Jahren. Bis zuletzt schreibt sie an ihrem Hauptwerk "Franziska Linkerhand", es bleibt unvollendet. Da lässt Brigitte Reimann ihre Protagonistin sagen:

Es muß, es muß sie geben, die kluge Synthese zwischen Heute und Morgen, zwischen dem Notwendigen und dem Schönen, und ich bin ihr auf der Spur, hochmütig und ach, wie oft, zaghaft, und eines Tages werde ich sie finden. Auszug: "Ich bin so gierig nach Leben"

Biografie zeigt wunderbare Schriftstellerin

Brigitte Reimann, die Suchende. Eine würdige, wahnsinnig volle, in ihrer Komplexität manchmal etwas überfordernde Biografie, die eine wunderbare Schriftstellerin zeigt: in all ihrer Zerrissenheit und ihrem Kampf für die eigenen Ideale.

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"Ich bin so gierig nach Leben - Brigitte Reimann"

von Carsten Gansel
Seitenzahl:
706 Seiten
Genre:
Biografie
Verlag:
Aufbau Verlag
Veröffentlichungsdatum:
18.07.2023
Bestellnummer:
978-3-351-03964-6
Preis:
30,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 20.07.2023 | 06:40 Uhr

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