Cover: Felix Stephan - Die frühen Jahre © Aufbau Verlag
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AUDIO: Neue Bücher: "Die frühen Jahre" von Felix Stephan (5 Min)

"Die frühen Jahre": Intensiver Nachwende-Roman von Felix Stephan

Stand: 26.05.2023 06:00 Uhr

Der Journalist Felix Stephan erzählt in seinem Debütroman "Die frühen Jahre" davon, wie Angepasstsein, Verschwiegenheit und das Bewusstsein, zu einer Elite zu gehören, eine Kindheit prägte.

von Claudia Ingenhoven

Felix Stephan ist 1983 in Ost-Berlin geboren, hat Journalistik und Literaturwissenschaft studiert und ist seit einigen Jahren Kulturredakteur bei der "Süddeutschen Zeitung". "Die frühen Jahre" heißt sein Debütroman, und diese Jahre beginnen im Winter 1989/90.

Ein schwieriger Neuanfang nach dem Mauerfall

Kurz nach der Wende verbrannte die Familie zu Hause sämtliche Unterlagen, die von ihrer Stasi-Tätigkeit zeugen konnten. Der Großvater war ein hochrangiger Geheimdienstmann. Er hatte geahnt, was kommen würde und rechtzeitig alle Akten beseitigt. Der sechsjährige Junge empfand die Stimmung als sehr feierlich, ohne zu verstehen, was die Erwachsenen gerade bewegte.

Meine Familie gehörte zu jenen, die am Esstisch die korrekte Haltung und Heranführung des Löffels diskutierten, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen etwas zu verbergen hätte. Ihr größter Wunsch bestand darin, sich in der Welt häuslich einzurichten. Leseprobe

Wenn er sich heute, als Erwachsener, an die Situation erinnert, wird der Erzähler von seinen Eltern korrigiert: Er sei doch gar nicht dabei gewesen. Aber er weiß, wie bedrückend die Stimmung damals war. Für die Eltern bedeutete die Wende einen Ruin all ihrer Werte. Die kapitalistische Warenwelt fanden sie  oberflächlich und leer. Der Vater, ein Bestnoten-Absolvent der Leipziger Journalistenschule, konnte sich seine Karriere als Auslandskorrespondent der DDR-Nachrichtenagentur abschminken. Seine Bewerbungen bei westdeutschen Zeitungen wurden nicht mal beantwortet. Die Mutter kam besser zurecht. Als Mathelehrerin haftete ihr kein Ideologie-Verdacht an, frisch verbeamtet konnte sie die Familie ernähren und abends mit ihren Freundinnen ausgehen, statt Trübsal zu blasen. Nur der Junge fiel auf. Wenn ihm in der Schule etwas gegen den Strich ging, prügelte und biss er wie besinnungslos, bis er schließlich suspendiert wurde. Zusammen mit der Mutter musste er sich in einer anderen Schule vorstellen.

Wichtige Termine bei Amtsträgern verlangten ihrer Vorstellung nach untertäniges Auftreten, und so trichtert sie auch mir Ehrfurcht vor staatlicher Autorität ein. Leseprobe

 

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Das Leben der Angepassten

Im übrigen waren die Eltern und Großeltern weitgehend mit sich beschäftigt. Beim Lesen wartet man auf den großen Knall, eine Enttarnung ihrer Stasi-Tätigkeit. Aber Felix Stephan geht es in diesem Roman nicht um Verrat oder Verbrechen, das wurde schon in anderen Romanen behandelt. Er erzählt davon, wie Angepasstsein, Verschwiegenheit und das Bewusstsein, zu einer Elite zu gehören, wie diese Mixtur eine Kindheit prägte. Einmal hoffte der Junge, mit seiner Großmutter ins Gespräch zu kommen, aber sie wich in eine skurrile Geschichte über Tannenbaumschmuck aus. Er grenzte sich ab von der Familie, probierte sich im Schreiben aus und suchte starke sportliche Vorbilder wie seinen Tennislehrer Wolfgang. Als er miterlebte, wie Wolfgang von anderen gedemütigt wurde, machte er gar nichts.

Ich begab mich in einen Zustand des unbeteiligten Erlebens, in den ich mich auch später immer wieder versetzte, wenn mir etwas nahe ging. Leseprobe

Felix Stephan macht es einem nicht leicht mit seinem heranwachsenden Ich-Erzähler, der sich vor einem Loser ekelt oder untalentierte Rapper verachtet. Er ist nicht weniger dünkelhaft als seine Eltern und doch unbeholfen um Nähe bemüht, nicht zuletzt zu seinem Vater. Stephan beschreibt seine Zerrissenheit ohne Mitleid, gerade deshalb lässt man den Jungen beim Lesen nicht los. Er begreift schließlich, dass er die Wahl hat. Niemand zwingt ihn, sich zu verhalten, wie er es tut, niemand bestraft ihn, wenn er es anders macht. Er kann sich entscheiden. Felix Stephan hat einen Spielraum umrissen und provoziert Fragen, die weit über seine Figur hinaus weisen.

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Die frühen Jahre

von Felix Stephan
Seitenzahl:
255 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Aufbau
Bestellnummer:
978-3-351-03884-7
Preis:
22 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 26.05.2023 | 12:40 Uhr

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