Necati Öziri: "Autofiktionale Figuren sind wie Kinder"

Stand: 09.10.2023 00:01 Uhr

Der Theatermacher Necati Öziri leitet am Schauspiel Hannover die Literaturreihe "Poetic Justice". Sein Debütroman "Vatermal" ist eine beeindruckende Geschichte über eine von politischen und sozialen Umständen gezeichnete Familie. Er steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

Necati Öziri © LST Kärnten/ORF Foto: Robert Schittko
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von Yasemin Ergin

Bevor Necati Öziri zum Schreiben fand, unterrichtete er formale Logik an der Ruhr-Universität in Bochum. Da hatte er zwar schon ein abgeschlossenes Literatur- und Germanistikstudium in der Tasche, aber konnte sich eine Karriere als Autor noch nicht so wirklich vorstellen. Auch wenn es da schon immer diese innere Stimme gegeben habe. "Man spürt im Innern, dass da eine Geschichte ist, die man erzählen will", sagt Öziri. "Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich morgens aufgewacht bin und gedacht habe, ich werde schreiben. Das war eine Verkettung von glücklichen Zufällen. Es ist vielen Menschen, denen ich unendlich dankbar bin geschuldet, die mich gefördert, die mich ermutigt haben."

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Über das Theater zum Schreiben gekommen

Zu den Menschen, die ihn beeinflusst und gefördert haben, zählt Öziri unter anderem Schriftsteller Deniz Utlu und Dramatiker:in Sasha Marianna Salzmann, mit der er eng am Maxim Gorki Theater zusammenarbeitete. Der Weg zum Schreiben sei für ihn ohnehin übers Theater gegangen. Ein Theaterbesuch habe den entscheidenden Impuls gegeben. "Ich bin mehr oder weniger zufällig in Berlin ins Theater gegangen. Da gab es einen der wenigen Momente gab, wo ich gedacht habe: 'Wow, das hat mich so krass berührt, du musst dein Leben ändern'", erzählt Öziri. "Das sind die Momente, die ich in der Kunst suche. Ich finde es toll, wenn mich etwas intellektuell abholt, aber eigentlich suche ich nach dem Momenten, die mich irgendwo in der Magengrube treffen."

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Vom Ballhaus Naunynstraße zum Maxim Gorki Theater

Er kam in Kontakt mit den Akteur:innen des Ballhaus Naunynstraße, den Pionieren des sogenannten "postmigrantischen Theaters", das ab 2008 neue Plattformen für diverse Künstler:innen bot, deren Perspektiven anderswo fehlten. Öziri arbeitete zunächst am Ballhaus, wo er unter anderem die Beschneidungssatire "Vorhaut" auf die Bühne brachte. 2013 bekam er einen Job als Dramaturgie-Assistent am Maxim Gorki Theater und übernahm dort später die Leitung der Experimentierbühne Studio Я.

"Vatermal" basiert auf Theaterstück

Sein Debütroman "Vatermal“ basiert auf seinem Theaterstück "Get Deutsch or Die Tryin", das 2016 im Rahmen einer Schreibwerkstatt am Gorki Theater entstand und Öziri als feste Größe im Berliner Theaterbetrieb etablierte. Das Stück war ein mehrere Generationen umspannendes Familienporträt, das türkische Geschichte mit persönlichen Schicksalen verwebte und von verschiedenen Gründe erzählte, wegen denen Menschen nach Deutschland einwanderten.

In "Vatermal" erzählt er diese Geschichte erneut, konzentriert sich dabei aber hauptsächlich auf die Folgen der Einwanderung für nachfolgende Generationen: Seine Hauptfigur Arda, Sohn türkischer Einwanderer, ist gezeichnet von den zerbrochenen Träumen seiner Eltern.

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"Vatermal": Briefe an den unbekannten Vater

"Vatermal" beginnt im Krankenhaus, wo Arda mit einer schweren Autoimmunerkrankung liegt und Briefe an seinen Vater schreibt, den er nie kennengelernt hat: "Wenn du das hier liest, werde ich wahrscheinlich tot sein" so beginnt der Roman: "Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging", schreibt Arda. Was folgt ist eine rasant geschriebene, berührende aber zwischendurch auch lustige Erzählung über Menschen, die am Rande der Gesellschaft aufwachsen. Eher beiläufig und in gekonnt flapsigem Ton schildert Öziri, wie Migration und Armut das Leben von Menschen prägen. Wichtig sei ihm, beim Schreiben keine Agenda zu verfolgen, sondern der Geschichte ihren Lauf zu lassen.

"Ich setze mich nicht hin und denke, ich schreibe jetzt einen antirassistischen Roman, der den strukturellen Rassismus in Deutschland thematisiert. So läuft das nicht", sagt Öziri. "Aber natürlich werden Arda und seine Freunde groß in einem Land, das sie als Außenseiter betrachtet. Denen wird ständig Zeit gestohlen, weil sie an Grenzkontrollen warten müssen, weil sie von der Polizei kontrolliert werden, weil sie auf dem Ausländeramt auf den Fluren rumhocken."

Autofiktionale Figuren sind wie Kinder

Öziris Roman ist autofiktional. Auch er ist wie Arda im Ruhrgebiet bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, auch er hat eine ältere Schwester und hat - wie seine Romanfigur - Literatur studiert. Über die Parallelen zwischen ihm und seinem Protagonisten spricht er aber nur ungern. "Die Frage bei autofiktionalem Schreiben ist immer, wieviel bist du das selbst und wie viel nicht", erklärt der Autor. "Mit den Figuren verhält es sich so, wie andere Kinder haben. Man schaut sie an und denkt, sie sind ein bisschen so wie ich. Aber irgendwie auch nicht - und nichts hassen die mehr, als wenn ich sie nicht als eigenständige Wesen betrachte."

Öziri fährt ohne Erwartungen zur Buchmesse

Am Schauspiel Hannover moderiert Necati Öziri seit letztem Jahr die Literaturreihe "Poetic Justice", in der er Gespräche mit anderen jungen Autor:innen über die Hintergründe ihres Schreibens führt. Dass er selbst nun mit seinem Debütroman für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, habe ihn "gefreut", wie er bescheiden sagt. Den Rest lasse er ganz entspannt auf sich zukommen. "Ich fahre mit keinen Erwartungen nach Frankfurt und versuche alles mitzunehmen", sagt Öziri. "Ich war noch nie in Frankfurt auf der Buchmesse und weiß auch nicht, ob ich jemals wieder dort hin eingeladen werde. Insofern nehme ich das alles als Erfahrung mit, die ein interessantes ästhetisches Potenzial hat."

In der Jury-Begründung zur Nominierung von "Vatermal" heißt es: "Seine jugendlichen Helden suchen Orientierung in einer Gesellschaft, in der sie nie wirklich ankommen. Öziri öffnet uns für diese deutsche Realität die Augen". Eine verdiente Würdigung - egal, wie es bei der Preisverleihung am 16. Oktober für den Roman ausgeht.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Nachmittag | 08.10.2023 | 15:40 Uhr

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