Stand: 04.01.2016 13:39 Uhr

Antoine-Francoise Prévost: "Die Geschichte des Chevalier de Grieux und der Manon Lescaut"

In 25 Folgen der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Antoine-Francoise Prévosts "Die Geschichte des Chevalier de Grieux und der Manon Lescaut".

Von Hanjo Kesting

Buchcover: Abbé Prévost - Manon Lescaut © Manesse Verlag
Die Liebe zwischen einem Adligen und einer Pariser Grisette sorgte bei Veröffentlichung des Romans für Empörung.

Die "Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut" von Antoine-François Prévost erschien 1731. Es war der erste große Liebesroman der neueren Literatur, genauer: die erste literarische Darstellung einer "amour fou", einer "verrückten Liebe". Von der weiblichen Hauptfigur, der schönen und jungen Manon Lescaut, hat Maupassant gesagt, sie sei der Inbegriff von allem, "was das weibliche Wesen an Liebenswürdigkeit, Verführungskraft und Schamlosigkeit zu bieten hat". Doch ist der Roman auch das Resultat einer neuen Empfindsamkeit, die im frühen 18. Jahrhundert in bürgerlichen Schichten entstanden war - Vorbote der Emanzipation des Bürgertums, das 60 Jahre später, mit der Französischen Revolution, politisch an die Macht gelangte.

Der Roman wurde, wie viele Bücher der französischen Aufklärung, zuerst in Holland gedruckt, weil er dort dem Zugriff der Zensur entzogen war. Als er zwei Jahre später in Frankreich erschien, wurde er wegen sogenannter "Unmoral" sogleich beschlagnahmt und verboten. In der Tat war die Radikalität, mit der in diesem Buch eine leidenschaftliche Liebe mit ihrer sinnlichen Passion und verzweifelten Absolutheit dargestellt wird, etwas Neues in der Geschichte der Literatur. Der Abbé Prévost behandelte keinen antiken oder mythischen, sondern einen alltäglichen Gegenwartsstoff, angesiedelt im Paris seiner Zeit. Als Protagonisten dienten ihm eine hübsche Pariser Grisette und ein junger Mann adliger Herkunft, der Chevalier des Grieux, als wolle er demonstrieren, dass die Gewalt der Leidenschaft sich über alle Standesgrenzen mühelos hinwegsetzt. Das musste damals anstößig wirken.

Frankreich im Rausch der Spekulation

Den historischen Grund bildet Frankreich mit seiner Metropole Paris im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, kurz nach dem Tod Ludwigs XIV., der durch viele Kriege seinem Land verhängnisvolle Lasten und Schulden aufgebürdet hatte. Danach begann eine Zeit der höfischen Verschwendung und der ungehemmten Expansion des Geldes. Der Schotte John Law als Finanzminister war der Erfinder dieses Systems, das Frankreich für einige Jahre in einen Rausch der Spekulation stürzte und die oberen Schichten mit Gier nach raschem Reichtum, nach Luxus und Vergnügungen jeder Art erfüllte, bis das Land bereits fünf Jahre später in einem Staatsbankrott von katastrophalem Ausmaß zusammenbrach. Prévost, damals ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, hat dies alles mit eigenen Augen beobachtet, vielleicht auch am eigenen Leib erlebt; jedenfalls sind der Leichtsinn der Spekulation, das Verlangen nach Luxus und die Gier nach Geld im Roman der "Manon Lescaut" auf fast jeder Seite gegenwärtig. Das Geld ist der dämonische Gegenspieler der großen Liebesleidenschaft, die den Chevalier des Grieux erfüllt und ihn von einer Katastrophe in die nächstschlimmere geraten lässt.

Inspirationsquelle bis ins 20. Jahrhundert

Puccinis "Manon Lescaut" in der Inszenierung von Hans Neuenfels an der Bayerischen Staatsoper 2014. © Wilfried Hösl Foto: Wilfried Hösl
Der Roman inspirierte auch Puccini zu seiner Oper "Manon Lescaut", hier in der Inszenierung von Hans Neuenfels an der Bayerischen Staatsoper 2014.

"Manon Lescaut" ist unter den vielen Romanen des Abbé Prévost der einzige, dem anhaltender Ruhm beschieden war. Er hat die Phantasie von Lesern und Schriftstellern aller späteren Epochen nachhaltig beschäftigt. Nicht nur Goethe und Rousseau wurden von "Manon Lescaut" beeinflusst, sondern auch die Romantiker und später die Autoren des 20. Jahrhunderts, die Dramatiker und Filmregisseure, nicht zuletzt die Komponisten von Jules Massenet über Giacomo Puccini bis zu Hans Werner Henze. Sie haben die "Geschichte der Manon Lescaut" als Vorlage für Opern gewählt, die noch heute im Repertoire sind. Sie alle wurden angeregt von Prévosts Darstellung der Liebe als Verhängnis, wie sie den beiden Titelfiguren widerfährt, aber auch von der tränenseligen Empfindsamkeit, die das ganze Buch durchtränkt. Tränen sind besonders geeignet, den aus Erotik und Gefühl zusammengesetzten Reiz auszuüben, der um das Jahr 1730 Mode wurde. Mit "Manon Lescaut" war die "amour fou" literarisch erfunden, verwirklicht und auch gleich vollendet, im Augenblick der Entstehung zur Meisterschaft gebracht. So taugte der Roman als Modell für spätere Zeiten und sogar als Lehrstück, bestünde seine Lehre nicht darin, dass gegenüber der Macht der Liebe jede Lehre versagt.

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