Urteil zum Abtreibungsgesetz: "Ich fühle mich zunehmend unwohl"
In den USA besteht grundsätzlich kein Recht mehr auf einen Schwangerschaftsabbruch. "Es herrscht eine konservative Irrationalität in diesem Land", findet die in der Nähe von New York lebende Schriftstellerin Irene Dische im Interview.
Das Oberste Gericht in den USA hat Ende vergangener Woche entschieden, dass es kein grundsätzliches Recht mehr auf einen Schwangerschaftsabbruch in den USA gibt. Es geht bis zu kompletten Verboten, und die wurden teils, je nach Bundesstaat, schon umgesetzt. Ärztinnen und Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche trotzdem durchführen, drohen dort zum Teil lange Gefängnisstrafen. Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Irene Dische, die in der Nähe von New York und in Berlin wohnt.
Frau Dische, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie Ende vergangener Woche erfahren haben, wie der Supreme Court in der Sache entschieden hat?
Irene Dische: Ich habe nicht verstanden, wieso irgendjemand überrascht war, weil das schon seit Monaten bekannt war, dass sie sich so entscheiden würden. Insofern ist es keine Überraschung gewesen. Es ist auch keine Überraschung, weil so viele das schon lange wollen. Trotzdem ist man verärgert. Vor allem ist diese Irrationalität der ganzen Geschichte so unglaublich. Die Frauen kriegen keine medizinische Versorgung, ihre Kinder werden nicht medizinisch versorgt - aber das Kind austragen müssen sie. Das ist auch eine unglaubliche finanzielle Belastung.
Wie haben Sie diese Woche seitdem erlebt? Ist es in Ihrem Umfeld ein großes Thema, wird viel darüber diskutiert?
Dische: Ja, es wird viel darüber diskutiert. Die Leute wissen nicht, was sie tun sollen. Gleichzeitig ist es ja nicht das einzige, was diese Woche passiert ist. Das war eine sehr ereignisvolle Woche, und das war nur ein Bruchteil davon. Der Supreme Court hat gleichzeitig auch entschieden, dass man zum Beispiel auf dem Sportfeld wieder beten darf, was vorher nicht erlaubt war, weil es hier viele Religionen gibt. Angeblich gibt es hier vollkommene Freiheit, aber es wird einfach an allem gesägt. Es herrscht eine konservative Irrationalität in diesem Land.
Aber es ist je nach Bundesstaat unterschiedlich. Sie leben in New York, wo das ganze eher liberaler ist. Gouverneurin Hochul hat gesagt: "Mit der Freiheitsstatue im Hafen bleibt New York auch immer ein sicherer Hafen für Frauen auf der Suche nach Freiheit, ihren eigenen Körper zu kontrollieren." Ist es tatsächlich dieser liberale Geist, der über dieser ganzen Stadt schwebt?
Dische: Ich bin nicht in der Stadt, ich bin auf dem Land. New York State ist riesengroß. Vor zwei Tagen standen hier drei Herren draußen, die bei mir etwas repariert haben, und diskutierten freudig über dieses neue Abtreibungsgesetz. Der eine sagte: "Ich liebe Kinder", und der andere sagte: "Ja, ich auch." Sie waren sehr erfreut über dieses Abtreibungsgesetz - hier in New York.
Die obersten Richter halten sich aktuell sehr an den Wortlaut der Verfassung. Darin ist zum Beispiel auch von einer Ehe für alle nirgends die Rede - die ist aber seit sieben Jahren landesweites Recht. Da gibt es jetzt Befürchtungen, dass die vielleicht als Nächstes dran sein könnte. Teilen Sie diese Sorge?
Dische: Ja, natürlich. Das will der afroamerikanische Richter Clarence Thomas, der hier das größte Unheil überhaupt anrichtet. Er hat ja ausgesprochen, dass das nicht im Gesetz verankert ist und man sich das durchaus nochmal überlegen sollte. Ehrlich gesagt ist das nicht so mein Thema.
Es gibt auch riesige Proteste in Ihrem Land. Haben Sie das Gefühl, dass das irgendetwas bewirken kann?
Dische: Nein. Es ist vollkommen egal. Und fragen Sie mich bloß nicht, was irgendwas bewirken kann. Ich fürchte, dass das irgendwann auf eine gewaltsame Teilung dieses Landes hinauslaufen wird. Ich kann es mir anders nicht vorstellen.
Wie meinen Sie das mit dieser Teilung?
Dische: Es gibt eine immer harschere Meinungs- und Glaubensverschiedenheit. Ich lebe im liberalen New York und ich höre hier dauernd Pro-Trump-Stimmen. Hier auf dem Land ist das üblich. Die glauben alle immer noch, dass die Wahl gestohlen worden ist, die glauben alle, dass sie ihre Narren haben müssen, und das Recht zu leben bezieht sich nur auf den Fötus und nicht auf die Schulkinder. Das ist alles haarsträubend hier und ich fühle mich zunehmend unwohl.
Das ist eine ganz pessimistische Perspektive. Was müsste sich denn tun, um dieses Land irgendwie zu einen, um diese Menschen irgendwie zu versöhnen?
Dische: Ich habe wirklich keine Ahnung. Es geht ja ums Glauben, dass die Leute glauben, dass die Wahl gestohlen worden ist, dass Gewehre absolut lebensnotwendig sind in jeder Hand. Dagegen kommt man nicht an, man kann nicht mit ihnen reden. Es gibt keine Rationalität in der Sache.
Würden Sie persönlich irgendwann auch den Schluss ziehen und wieder komplett nach Europa kommen?
Dische: Ja. Und ich bin nicht alleine. Ich kann es mir leider sehr gut vorstellen. Hier wollen eine ganze Menge Leute weg.
Das Interview führte Jan Wiedemann.