Vor dem Dresdner Rathaus treffen sich am 11. Juli 2009 etwa 1.500 Trauernde, um der am 1. Juli 2009 im Dresdner Landgericht erstochenen Ägypterin Marwa El-Sherbini zu gedenken. © picture-alliance / dpa Foto: Matthias Hiekel
Vor dem Dresdner Rathaus treffen sich am 11. Juli 2009 etwa 1.500 Trauernde, um der am 1. Juli 2009 im Dresdner Landgericht erstochenen Ägypterin Marwa El-Sherbini zu gedenken. © picture-alliance / dpa Foto: Matthias Hiekel
Vor dem Dresdner Rathaus treffen sich am 11. Juli 2009 etwa 1.500 Trauernde, um der am 1. Juli 2009 im Dresdner Landgericht erstochenen Ägypterin Marwa El-Sherbini zu gedenken. © picture-alliance / dpa Foto: Matthias Hiekel
AUDIO: Tödlicher Hass: Rassismus-Bekämpfung ist eine Daueraufgabe (5 Min)

Tödlicher Hass: Rassismus-Bekämpfung ist eine Daueraufgabe

Stand: 30.06.2023 06:00 Uhr

Überall in Deutschland finden diese Woche Aktionen gegen antimuslimischen Rassismus statt. Damit wollen Menschen auf die hohe Zahl islamfeindlicher Straftaten aufmerksam machen. Ein Gastkommentar von Michael Kiefer.

von Michael Kiefer

Marwa El-Sherbini wurde am 1. Juli 2009 in einem Gerichtssaal in Dresden von einem rechtsextremen Mann ermordet. Das Tatmotiv: Hass gegen Muslime. Der Tatablauf: ein Alptraum. Die Gerichtsmedizin zählte 18 Messerstiche. Der Ehemann, der seine Frau zu schützen versuchte, wurde vom Täter mit mehreren Messerstichen lebensgefährlich verletzt. Der dreijährige Sohn befand sich mitten im Geschehen und musste die Bluttat mit ansehen. Zu allem kaum fassbaren Unglück hielt ein herbeieilender Polizist den Vater für den Täter und schoss auf Ihn.

Straftaten gegen Muslime seit Jahren auf hohem Niveau

Das brutale Messerattentat auf Marwa El-Sherbini sorgte international für große Aufmerksamkeit in den Medien. Die Bluttat stellt eine Zäsur dar. Quasi vor den Augen des deutschen Staates wird eine junge muslimische Frau niedergemetzelt. Die Tat schockiert viele Muslime. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Hass gegen Muslime in Deutschland eine tödliche Dimension erreicht hat, und dass der Staat sie nicht immer zu schützen vermag.

Ein Porträt zeigt Michael Kiefer, Dozent am IIT. © dpa - Bildfunk Foto: Friso Gentsch
Michael Kiefer ist Islamwissenschaftler am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück.

Antimuslimischer Rassismus ist in Deutschland kein Randphänomen. Allein die Zahlen aus der Kriminalitätsstatistik sprechen eine deutliche Sprache. Straftaten gegen Muslime bewegen sich seit Jahren auf einem hohen Niveau. Die Behörden verzeichneten im Jahr 2021 insgesamt 662 islamfeindiche Straftaten. Doch diese Zahlen beschreiben nur das Hellfeld. Viele Straftaten - darunter Beleidigungen, Körperverletzungen und Sachbeschädigungen - werden nicht zur Anzeige gebracht.

Vorurteile gegenüber Muslimen sind weit verbreitet

Antimuslimischer Rassismus konstruiert generalisierende Anschuldigungen gegen Muslime. Weit verbreitete Narrative sind in diesem Kontext die Anwürfe, Muslime seien "rückständig", da sie keine Reformation und Aufklärung erfahren hätten. Ferner seien sie "frauenfeindlich", "gewaltsam", "intolerant", "homophob" und "extremistisch". Antimuslimischer Rassismus beschreibt Muslime als eine vermeintlich homogene Gruppe, die "anders" und "fremd" ist und folglich nicht "hierhher" gehört.

Die skizzierten Narrative sind weit verbreitet. Die Leipziger Autoritarismus-Studie zeigt, dass Vorurteile gegenüber Muslimen einen hohen Verbreitungsgrad aufweisen. So stimmte knapp die Hälfte der Befragten der Aussage zu: "Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land." In Ostdeutschland stimmten in der gleichen Studie 46,6 Prozent der Befragten der Aussage zu: "Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden."

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Rassismus auch in Institutionen vorhanden

Die Zahlen lassen erahnen, dass Phänomene des antimuslimischen Rassismus Staat und Zivilgesellschaft vor große Herausforderungen stellen. Hierbei geht es nicht nur um die Verhinderung von Gewalt- und Straftaten. In den Fokus gerückt werden muss auch der Rassismus in Strukturen und Institutionen. Eine muslimische Frau, die ein Kopftuch trägt, hat auf dem Arbeitsmarkt nicht die gleichen Chancen wie eine Frau ohne Kopftuch. Manche Tätigkeitsbereiche sind für sie sogar gänzlich unzugänglich. Dies ist immer noch in Justiz und Schule der Fall. Auch muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Organisationen aus der muslimischen Zivilgesellschaft, die im weiten Feld in der Wohlfahrtspflege tätig werden wollen, immer wieder an gläserne Decken stoßen und scheitern. Muslimische Träger, die eine Kindertagesstätte mit öffentlicher Förderung betreiben wollen, müssen oft Jahre kämpfen, um die erforderlichen Anerkennungsprozesse zu durchlaufen. Grund sind hier nicht selten Vorurteile und Bedenken in den kommunalen Verwaltungen.

Rassismus-Bekämpfung ist eine Daueraufgabe

Die verantwortliche Politik in Bund, Ländern und Kommunen hat zum Teil die Problemstellungen identifiziert und verspricht Abhilfe. So werden zum Beispiel in einigen Städten Sensibilisierungstrainings für kommunale Bedienstete durchgeführt. Vorurteile über Muslime werden hier kritisch reflektiert und abgebaut. Das ist ein erster Schritt. Jedoch kann der Kampf gegen Rassismus nur dann erfolgversprechend sein, wenn er über punktuelle Aktivitäten hinausgeht. Die Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung ist eine Daueraufgabe, für die alle Beteiligten einen langen Atem brauchen.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 30.06.2023 | 15:20 Uhr

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Rechtsextremismus

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