Stand: 23.10.2018 17:25 Uhr

Milo Rau: "Die Kunst des Widerstands"

"Protest!" - so sind in diesem Jahr die Hannah Arendt Tage in Hannover überschrieben. Die wohl prominenteste Denkerin des 20. Jahrhunderts hat oft laut ihre Stimme erhoben, wenn es ungemütlich wurde im gesellschaftspolitischen Fahrwasser. Der vielfach ausgezeichnete Schweizer Regisseur und Theaterautor Milo Rau hält bei den 21. Hannah Arendt Tagen den Eröffnungsvortrag: "Die Kunst des Widerstands".

Herr Rau, seit dieser Theatersaison sind Sie Intendant am Nationaltheater in Gent, haben gerade Ihren Einstand gefeiert mit einer Inszenierung, die für Verwunderung, Überraschung, Aufregung gesorgt hat: eine Rekonstruktion der Genter Altarszene mit Laien und Schafen. Das weltberühmte Altar-Meisterwerk der Kunstgeschichte ins heutige Hier und Jetzt versetzt - ist das Ihre Form des Protests?

Regisseur Milo Rau © dpa Foto: Jörg Carstensen
Milo Rau wurde 1977 in Bern geboren.

Milo Rau: Es war meine Form des Aufschlags und vielleicht auch eine Art Liebesbrief an Gent. Man fragt sich bei einer Saisoneröffnung an einem neuen Theater: Was macht man, um den Leuten das Gefühl zu geben: Das ist euer Theater? Ich dachte mir, nehmen wir doch mal das berühmteste Kunstwerk Gents, gemalt im 15. Jahrhundert. Es sind biblische Figuren darauf, unter anderem der Gottvater selbst und die heilige Maria. Die wurden aber damals - und das war eine Revolution, also fast eine Art Protest gegen die Kirche - mit den Nachbarn, also mit normalen Bürgern aus Gent besetzt. Die Protestanten haben versucht, das im Bildersturm zu zerstören. Und ich habe das Gleiche gemacht: Ich habe mich gefragt: Wer ist eigentlich die Mutter Maria? Bei mir war das dann die Mutter eines Dschihadisten. Adam und Eva waren natürlich nackt auf der Bühne. Es waren auch Schafe auf der Bühne, ein Schaf wurde auch geschoren, und das hat alles für viel Aufregung und für einen Skandal gesorgt. Ich glaube aber, dass die Inszenierung schlussendlich die Leute doch sehr versöhnt hat.

Und vor allem auch beschäftigt.

Rau: Ja, sicher auch beschäftigt. Es gab - wie so oft, wenn ich inszeniere - im Vorfeld sehr viele Debatten: Darf so eine Person wie der Dschihadist auf die Bühne? Darf ein Kinderchor zugucken, wie Adam und Eva Sex haben? Was heißt heute überhaupt noch Zärtlichkeit und Liebe, wo wir uns so an Nacktheiten und Pornografie gewöhnt haben? Ist so ein Gegenentwurf noch darstellbar? Es gab viele Debatten, und jetzt muss ich sagen: Es hat funktioniert.

Freie Produktionsweisen, kollektive Autorschaft, international aufgestellt, ein Wandertheater, das auf Tournee geht - ist das Ihre persönliche Vision, Ihre Vorstellung von einem Theater der Zukunft?

Rau: Das ist auch ein bisschen das, was ich heute in Bezug auf Protest sagen werde. Ich werde vielleicht nicht über klassische Protestformen sprechen, sondern eher über das, was man Solidarität nennen könnte. Es findet ja eine ganz große Entsolidarisierung statt - darüber hat Hannah Arendt in ihrem Begriff des Bösen sehr viel gesprochen: Was passiert eigentlich, wenn ein Völkermord stattfindet? Wie kann es sein, dass sich Gruppen in einer Gesellschaft auf eine Weise entsolidarisieren, dass die eine dann umgebracht wird? Für mich ist Theater ein Gegenentwurf, es ist ein Raum der Solidarität und tatsächlichen Kollektivität, kollektiver Autorschaft auch, sich der großen Fragen unserer Gesellschaft annimmt. Da gibt es nicht einen Regisseur, der einen Text hat, der vielleicht sogar noch von einem toten Autor verfasst wurde, und der dann inszeniert wird mit Geschrei und Unterdrückung, sondern für mich ist der Prozess entscheidend. Für mich ist auch entscheidend, was während der Proben passiert. Deshalb sind bei mir die Probenprozesse offen, jeder kann zu den Proben kommen. Die Premiere ist für mich ein Punkt im Arbeitsprozess - ich entwickele das noch nach der Premiere. Manchmal wird das weiterentwickelt, und ich bin gar nicht dabei, sondern auf Tour. Wir wollen auch touren, wir wollen Laien, Schafe, einen Hund - da sind alle möglichen Wesen auf der Bühne in meinen Inszenierungen. Das ist tatsächlich die Utopie, die ich habe vom Theater: die Gesellschaft, wie ich sie mir vorstelle, im Kleinen.

Mit Ihrem Theater, Ihren Stücken wollen Sie etwas bewegen, vielleicht auch provozieren. Sie holten in der Vergangenheit immer wieder politische Themen auf die Bühne: den Fall Ceausescu, den Fall Anders Breivik oder ein ruandisches Völkermord-Radio ("Kongo Tribunal"). Ist das Theater der Ort für öffentliche Auseinandersetzungen? Auch das wäre im Sinne Hannah Arendts: Öffentlichkeit als streitbarer Diskursraum.

Rau: Ich denke, dass das Theater ein symbolischer Raum des Diskurses ist, dass auf der Bühne im Theater Dinge möglich sind, die politisch noch nicht möglich sind oder nicht mehr möglich sind. Das "Kongo Tribunal" ist der Entwurf eines Weltwirtschaftstribunals, das wir im Ostkongo, in der Bürgerkriegsregion mit allen Beteiligten durchgeführt haben, von Regierungsvertretern bis zu Rebellen. Da wurden als Folge auch Minister entlassen. Das hat Wirkung gezeigt, und es hat Symbolwirkung entwickelt. Das geht also. Das wäre aber nicht gegangen, wäre ich als Politiker da eingereist. Wenn ich überhaupt hätte einreisen können, dann wäre ich nach zwei Wochen tot gewesen. Als Künstler geht das. Ich glaube trotzdem, dass das Theater ein Ort ist, der Realität vorwegnehmen könnte, ein utopischer Ort.

"Vom Wagnis der Öffentlichkeit" - das ist ein Zitat von Karl Jaspers, das Hannah Arendt immer wieder sehr stark in ihren Texten anleuchtet und mobilisiert hat. Muss Theater in der Öffentlichkeit ein Wagnis eingehen, um Wirkung zu erzielen?

Rau: Absolut. Das Wagnis des Missverständnisses beispielsweise, also das Wagnis dessen, dass man missverstanden werden will. Das Gefühl habe ich oft, wenn ich mich äußere. Wenn ich Stücke mache, habe ich das Gefühl, dass die Leute nur darauf warten, bis ein Fehler geschieht, auf den man einhaken kann. Ich denke, dass heute die Geduld, die Fähigkeit zuzuhören sehr kurz ist. Und da ist Theater tatsächlich ein Raum, in dem man sich Zeit nehmen kann; man kann sich für ein Thema zwei Stunden nehmen, manchmal nehme ich mir drei Tage Zeit. In den Tribunal-Formaten, wo man gezwungen ist, seinen politischen Gegnern mal zwei Stunden lang zuzuhören, da beginnt es im Kopf zu arbeiten. Oder wenn man Breiviks Rede eine Stunde lang zuhört - natürlich ist es verworren, natürlich ist er ein Psychopath - aber plötzlich denkt man: Da muss ich ja Antworten finden. Ich bin anderer Meinung, aber warum eigentlich? Was ist eigentlich mein Vorschlag für unsere Gesellschaft? Es ist wichtig, dass man sich dem aussetzt, dass man da zuhört. Ich habe mit sehr vielen Völkermördern gesprochen, und es ist für mich unglaublich interessant und auch erschreckend, zu sehen, wie diese intelligenten Menschen an diesen Punkt kommen, wie das möglich ist.

Das Interview führte Claudia Christophersen

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 23.10.2018 | 19:00 Uhr

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