Wandern: Kleiner Kontrapunkt zu den aktuellen Verkehrsdebatten
Zu Fuß gehen ist gesund, sozial und umweltverträglich - aber auch ganz ohne noble Zwecke eine schätzenswerte Erfahrung. Ein Essay von Beatrix Novy.
Es gibt moderne Weisheiten, denen alle herzlich gern zustimmen. Rituelle Beschwörungssprüche wie diese: Natürlich sollte man weniger Fleisch essen. Oder: Diese SUVs! Eine Plage. Oder: Wer alles und jedes im Netz bestellt, soll sich nicht wundern, wenn die Geschäfte im Viertel zumachen. Oder: Dieses dauernde Ins-Handy-Starren ist doch irgendwie krank. Oder: Man sollte viel mehr zu Fuß gehen.
Die Wirklichkeit hinter diesen Sprüchen sind expandierende Burger-Läden und Rindfleisch-Boutiquen, Lieferwagen-Kolonnen, einheitlich aufs Display gesenkte Köpfe im Straßenbild und eine lebendige SUV-Kultur. Und doch entwickelt sich immer auch aus allfälliger Meinung gelebte Realität. So hat die kommerziell blühende vegane Szene im Kampf gegen übermäßigen Fleischkonsum an öffentlicher Aufmerksamkeit sehr gewonnen; und immerhin steigt die Zahl der Leute, die andere Formen der Mobilität nutzen als den privaten PKW: Fahrrad, Straßenbahn, Bus, Car Sharing, Roller oder einen Mix aus allem, einschließlich Flugzeug. Allerdings, das Gehen auf zwei Beinen gehörte zur Fülle der Alternativen lange nicht dazu. Die über Jahrtausende normalste und üblichste aller Fortbewegungsarten wurde im Lauf des 20. Jahrhunderts tatkräftig marginalisiert: Weltweit regiert in den Städten - und in den Industrieländern auch auf dem platten Land - das Auto. Sein Grundrauschen und seine ständige Anwesenheit als ruhender Verkehr sind der Hintergrund noch für den schönsten Osterspaziergang.
Die magischen 10.000 Schritte
Warum also übers Zu-Fuß-Gehen nachdenken? Weil es doch so etwas wie einen Trend gibt. Weil immer mehr Menschen dieser exotischen Fortbewegungsart auch im Alltag etwas abgewinnen können. Um diese mentale Umkehr hat sich die Weltgesundheitsorganisation WHO mit der Doktrin der 10.000 Schritte verdient gemacht. Raffiniert verknüpft sie den Appell an das Rekordsüchtige in uns mit verführerischen Texten, etwa auf Schildern an Wanderwegen, die über den interessanten Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Schrittzahl informieren. Die in den Anfängen übrigens noch mit erträglichen 6.000 angegeben, irgendwann aber auf die magischeren 10.000 angehoben wurde. Das macht den Blick auf die Schrittzähler-App noch aufregender - wo es ein definiertes Ziel gibt, macht sogar ordinäres Gehen einen Sinn. Und die Beschäftigung mit der natürlichsten Fortbewegungsart läuft auf Hochtouren: Aus literarischer, sozialgeschichtlicher, urbanistischer, medizinischer und gesundheitspolitischer Sicht. Man kann es nicht oft genug hören, also hört und liest man ständig: Eine Stunde forsches Gehen pro Tag genügt, um das Herzinfarktrisiko zu mindern und vor Krebs zu schützen. Gehen ist für die Gelenke gesünder als Joggen. Gehen schärft das Auge und weitet das Herz. Gehen erweitert die in der Dauerbeschleunigung dieser Zivilisation verengte, zusammengeknüllte Wahrnehmung. Man vergleiche eine Landschaft, gesehen aus einem ICE mit 240 Kilometern pro Stunde, und beim gemächlichen Vorbeiwandern. Es müssen auch gar nicht die 1.000 Kilometer nach Santiago de Compostela sein, ein bisschen Mikrotourismus im Stadtviertel ist auch sehr befriedigend.
Fußgänger-Vorbilder der Literatur
Die Hirnforschung kann Zusammenhänge zwischen Bewegung und Hirntätigkeit begründen, aber sie musste sie nicht entdecken. Für die geistigen und emotionalen Vorteile des Gehens bürgen die großen Fußgänger-Vorbilder der Literatur, von der Antike mit ihren wandelnden Philosophen über die frühe Neuzeit zu Jean-Jacques Rousseau, der einer bereits rollenden Zivilisation den bewussten Gang in die unverdorbene Natur entgegensetzte. Nach ihm kamen andere, vor allem, in den robusten Stiefeln eines ausgezeichneten Schuhmachers, der Kronzeuge deutscher Wanderlust, Johann Gottfried Seume, der ein Buch aus seinem Marsch von Leipzig nach Sizilien machte und es in milder Untertreibung "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802" nannte. Auch ohne Ratschläge einer WHO oder Krankenkasse und überhaupt seiner Zeit voraus war Seume sicher, dass, "wer in neun Monaten meistens zu Fuße eine solche Wanderung macht", sich "noch einige Jahre vor dem Podagra" schützt. Seumes allgemeine Annahme, "wo alles zu viel fährt, geht alles sehr schlecht" machte als Bonmot Karriere, im späten 20. Jahrhundert, als das Gehen so exotisch geworden war.
Anders als das Wandern: Der Wandertrieb hielt an, der schon Hölderlin, Büchner oder Thoreau über Land getrieben hatte und im 19. Jahrhundert über die Ideale romantischer Waldeinsamkeit hinweg zur bürgerlichen Bewegung anwuchs. Auch die war, von den Pionieren des Schwarzwaldvereins bis zum Wandervogel, vom Eskapismus geleitet: Aus grauer Städte Mauern ziehn wir durch Wald und Feld. Substantiell hat sich daran nicht viel geändert. Heute freut sich die Tourismusindustrie über die "beliebteste Outdoor-Aktivität der Deutschen": Das Wandern hat sich optimal einbetten lassen in die modernen Konzepte von Öko- und Wellness-Tourismus. Mit Manuel Andrack und Hape Kerkeling kehren moderne Wanderer Hast, Lärm und Feinstaub den Rücken. Keineswegs eine Gegenbewegung zum Beschleunigungsdiktat, sondern ein Ausgleich, zu dem einen allerdings auch erst ein modernes Verkehrsmittel bringen muss.
- Teil 1: Die magischen 10.000 Schritte
- Teil 2: Die Stadt soll zurückerobert werden