Ein Gartenzwerg hält eine Deutschland-Fahne in der Hand. © picture alliance/dpa Foto: Julian Stratenschulte

Heimat - Nostalgie als Utopie?

Stand: 05.11.2022 06:00 Uhr

Ist Heimat Sache der Politik? Ist sie ein Menschenrecht? Wie kann Heimat im transnationalen Zeitalter gestaltet werden? Gedanken über einen anhaltend schwierigen Begriff.

von Jochen Rack

Wer von Heimat spricht, leidet meist unter Heimweh. Vor allem, wenn sie bedroht oder verloren ist, wird Heimat zum Sehnsuchtswort. Oder auch nur, wenn ihr Verlust oder ihre Bedrohung imaginiert werden. Die Konjunktur des Heimatdiskurses in den vergangenen Jahren verweist auf die Erfahrung von Heimatlosigkeit und Heimatverlust. Heimat wird beschworen, wenn in den ländlichen Regionen auf einmal keine Landärzte mehr zu finden sind, wenn Bahnverbindungen eingestellt werden, Tante-Emma-Läden und Wirtshäuser schließen und die Menschen in die Städte abwandern. Heimatverlust wird beklagt, wenn Dorf- und Kleinstadtkerne veröden und das Landleben nicht von Landlust, sondern Landflucht geprägt ist. Was einmal Heimat war, erscheint den Bewohnern solcher abgehängter, wirtschaftlich benachteiligter Regionen dann als verklärte Vergangenheit. Als es sie noch gab, die guten alten Dinge. Als die Gemeinschaften noch intakt, die sozialen Beziehungen lebendig, Dorf und Stadt attraktiv waren. Heimat als verlorene Utopie in einer durchrationalisierten, globalisierten Welt, die einen Strukturwandel bedingt, der die Menschen aus ihren gewachsenen Lebenswelten vertreibt und zu einer Mobilität und Flexibilität zwingt, für die sie sich nicht freiwillig entscheiden würden.

Jochen Rack © Jochen Rack
Jochen Rack macht sich Gedanken zum Thema Heimat.

Heimatverlust können aber auch Großstadtbewohner erfahren, die zusehen müssen, wie gewachsene Viertel gentrifiziert werden, die Mieten ins Unerschwingliche steigen, Betriebe zumachen, vertraute Nachbarschaften sich auflösen und Menschen zuziehen, die nicht ihre Werte teilen. Heimatlos fühlen sich vielleicht auch die Zugezogenen, die ihrem Geburtsort, ihrer angestammten Kultur, ihrem Herkunftsland den Rücken kehrten, um in einer anderen Stadt oder einem anderen Land ein besseres Leben zu finden. Oder sie flohen aus ihrer Heimat, weil dort Armut, Krieg oder Unfreiheit herrschen.

Die zweite Heimat

Starke politische Reaktionen in Deutschland rufen vor allem Flüchtlinge und Migranten aus den arabischen Bürgerkriegsgebieten oder verarmten Ländern Afrikas hervor. Ihre Heimat ist zerstört, oder ihr Herkunftsland war ihnen nie Heimat, weil sie dort Not und Elend, Verfolgung oder Lebensgefahr erlebten. Heimat können sie nur als zweite Heimat finden, im Sinn des Filmemachers Edgar Reitz: als Heimat, der man nicht naturwüchsig angehört, sondern die man sich selbst schaffen muss. Eine solche zweite Heimat im Ankunftsland bedeutet für die Migranten vor allem eine Existenz in rechtlicher Sicherheit, Frieden und wirtschaftlichem Wohlstand. Doch an den Grenzen in die erhoffte neue Heimat treffen sie auf eine ambivalente Stimmung: die Willkommenskultur der einen, die sich dem Gedanken der Humanität und Caritas verpflichtet fühlen, einem kantischen Geist der "Hospitalität"; und den Abwehrreflexen und Ressentiments der anderen, die sich von den Neuankömmlingen bedroht sehen und ihre Heimat gegen die Fremden verteidigen zu glauben müssen. Weil sie fürchten, dass diese ihnen etwas wegnehmen, materielle Ressourcen, aber auch existentielle Gewissheiten. Heimat wird für sie zum politischen Kampfbegriff - wie der Publizist Christian Schüle in seinem Buch "Heimat. Ein Phantomschmerz" schrieb: "Eine Re-Romantisierung von Heimat (…) ist dieser Tage ebenso festzustellen wie die nostalgiesatte Verklärung der Boden-Scholle als Frontabschnitt im Kampf der Kulturen."

Rückzug ins Nationale

Die Sehnsucht nach Heimat kann in rechtsnationaler, populistischer Weise missbraucht werden. Der Heimatbegriff dient dann als Keule und Deckwort für Ausländerhass, Fremdenfeindlichkeit und die "Angst vor den Anderen" (Zygmunt Bauman). Diese stehen stellvertretend für die Verunsicherung der Lebensgewohnheiten, die Unübersichtlichkeit der modernen Welt und das Unbehagen an der Kultur. Der Soziologe Heinz Bude sprach von einer "Gesellschaft der Angst", in der sich das "Misstrauen gegen die Haltlosigkeit der Welt" ausdrücke. Bedrohlich ist das Asylbewerberheim, in dem Menschen mit anderer Hautfarbe und anderer Bekleidung wohnen. Heimat ist der Raum, den man vom Fremden und den Fremden freihalten möchte. Die "biodeutschen Territorialisten", wie sie Heinz Bude treffend nennt, betreiben eine aggressive Identitätspolitik und beschwören Heimat in Abgrenzung gegen andere Nationalitäten. Den Prozess der Überwindung von Nationalstaaten, die europäische Integration und Völkerverständigung in einem postnationalen Gemeinwesen möchten sie gerne rückgängig machen. Der Rückzug ins Nationale gilt ihnen als Allheilmittel gegen die Zumutungen der modernen Welt. Schlagbäume und Grenzmauern imaginieren sie als Schutz gegen das Gefühl der Bedrohung und schließen sich ein in ihren Wesensgrenzen: Heimat als Ausdruck von Xenophobie und Nationalismus.

Im Namen von Ökologie und Frieden

Heimat hat aber auch eine andere, eine liberale Tradition. Im Namen der Rettung ihrer Heimat formierten sich Bürgerinitiativen in den 1970er-, 80er-Jahren, die gegen Atomkraftwerke und Atommülllager vor ihrer Haustür demonstrierten. Menschen gingen auf die Straße, um sich gegen die Stationierung von Atomraketen in ihrer Nachbarschaft zu wehren oder gegen das Waldsterben zu protestieren. Heimat war ein Graswurzelbegriff in einer demokratischen Zivilgesellschaft, die sich von ihren politischen Repräsentanten nicht ausreichend in ihren Interessen vertreten fühlte und durch gewaltfreien Widerstand politische Korrekturen anmahnte. Die Verteidigung der Heimat im Namen von Ökologie und Frieden konnte dabei anknüpfen an die Tradition der deutschen Romantik, an Naturfrömmigkeit und mystische Spekulationen über die Einheit von Mensch und Natur. Heimat in diesem Sinn war ein Begriff für die Kommunikation von Mensch und Natur, die Einheit von Subjekt und Objekt, oder - mit dem Philosophen Hartmut Rosa gesprochen - eine Chiffre für Resonanzbeziehungen. Das Gegenteil dieses vertraulichen In-der-Welt-Seins ist die Fremde - in einem umfassenden Sinn: als geografische Fremde für Menschen, die ihren Herkunftsort verlassen müssen; als Gefühl der Fremdheit in einer anderen Kultur, der Unvertrautheit mit Sitten und Gebräuchen; aber auch als Entfremdung in Arbeit und sozialen Beziehungen, als Isolation und Trennung.

Die gute alte Zeit, die es so nie gab

Die Menschen suchen nach Resonanzen, Gemeinschaft, Zugehörigkeit, finden sie aber immer weniger in der modernen Welt, wenn wirtschaftliche Veränderungen, kulturelle Umbrüche und ein schneller Wertewandel vertraute Lebensformen vernichten und außer Kurs setzen. Wenn die letzte Zeche in Nordrhein-Westfalen schließt oder eine bestimmte Form der Industriearbeit nicht mehr gebraucht wird, weil sie in anderen Ländern billiger gemacht oder durch Roboter ersetzt wird. Wenn Fischer vom Fischfang nicht mehr leben können, weil ihre Fangquoten es nicht erlauben oder die Meere überfischt sind. Wenn Bauern mit der Landwirtschaft nicht mehr genug verdienen, weil sie auf dem Weltmarkt nicht konkurrieren können. Oft gibt es dann falsche Abwehrreflexe: Grenzen dicht, Protektionismus, "America first", neuer Nationalismus, Brexit und so weiter - als könne man verlorene Sicherheiten wiederfinden, indem man den Strukturwandel schlicht aufhält und wirtschaftliche und kulturelle Verhältnisse der Vergangenheit wieder herzustellen sucht. Heimat als Heimweh nach der guten alten Zeit, die es so nie gab.

Übersicht
Eine Reihe von Uhren steht in einem leeren Fabrikgebäude. Eine zeigerlose Uhr ist frontal zu sehen. © Roberto Agagliate / photocase.de Foto: Roberto Agagliate

Gedanken zur Zeit

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Politik kann Heimat nicht erzwingen

Auf die Verunsicherung der Lebensverhältnisse und den Zorn der Bürger reagiert die Politik, indem sie zum Beispiel ein Heimatministerium einrichtet, das vollmundig verspricht, Heimat zu schaffen, aber nur Glasfaserkabel in die Fläche legt. Politik kann Heimat nämlich nicht anordnen oder erzwingen, sondern bestenfalls für eine Infrastruktur sorgen, die Menschen befähigt, sich ein Leben einzurichten, in dem sie sich zuhause fühlen. Politik muss den Strukturwandel gestalten, die Globalisierung moderieren, indem sie ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stellt, Bildung und Weiterbildung ermöglicht. Indem sie in den Städten Wohnraum schafft, Mieten begrenzt, ökologische Entwicklung garantiert. Indem sie die ländlichen Regionen ausreichend unterstützt und aus der Fremde ankommende Migranten menschenwürdig behandelt und ihre Menschenrechte sichert. Heimat entsteht durch solche Politik aber noch nicht.

Heimat entsteht erst, wenn freie Bürger Geborgenheit und Gemeinschaft hautnah erfahren, indem sie einander in Toleranz, Kooperation und Respekt begegnen. Heimat in diesem Sinn ist die Idee eines gelungenen Lebens, in dem keiner ausgeschlossen, vergessen, abgehängt wird, in dem nicht Fremdheit und Entfremdung herrschen, sondern jeder seinen Platz hat und Anerkennung. Heimat als Idee einer Gesellschaft der Zugehörigkeit und Solidarität. Heimat nicht als muffig Rückwärtsgewandtes, engstirnige nationalistische Grenzsicherungsmentalität, verbissene Verteidigung des eigenen Territoriums und der eigenen Identität, sondern als aufrechte Haltung weltoffener Menschen, die sich in ihrer Unterschiedlichkeit anerkennen. Heimat nicht exklusiv, sondern in Verantwortung für den anderen.

Wiederholung der Sendung vom 10. Februar 2019

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 06.11.2022 | 13:00 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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