Ein junger Mann telefoniert in einer Telefonzelle bei Nacht. © photocase.de Foto: MI-Flo

Glosse: Wahrheit für 20 Pfennige

Stand: 11.11.2022 16:54 Uhr

Wenn nun bald die Telefonzelle verschwunden sein wird, bleibt nur noch die Erinnerung an gelbe Häuschen an Straßenecken, von denen wir unseren staunenden Kindern und Enkeln erzählen werden. Oder?

von Ocke Bandixen

"Hey! Fasse dich kurz! Ist doch wahr." Da stand man an, also an der gelben Zelle. Irgendwo und überall. War froh, dass man eine gefunden hatte. Also, eine, die ging. "Ruf doch mal an" stand in einer Sprechblasenwolke. So einfach war es aber nicht. Gut sichtbar waren sie ja, weil - zumindest bevor Magenta eine offizielle Farbe war und solange wir noch einen Bundespostminister hatten - sie ja nun einmal gelb waren, auch wenn sich die Form sonst schon mal änderte. Aber zunächst sah man oft von außen erst einmal irgendwem beim Telefonieren zu. Und hörte.

Gespräche belauschen und Kleingeld zählen

Gut, das macht man heute auch, ständig sogar. Aber damals war das noch bizarr: "Ja, Mama. Nein, Mama. Mir geht es gut. Ja, ich hab gegessen. Ja, der Pullover ist warm. Könntest du vielleicht nochmal etwas Geld..." Wenn es nur um die Mama ging, war es gut. Konnte aber auch anderes sein. "Nein, Carola, da war nichts. Wirklich nicht. Nur Freunde. Ja, doch. Ich kenn' die gar nicht. Hör doch mal..." Und während man dem einseitigen Drama lauschte und sich seinen Teil dachte, sammelte man schon ungeduldig das Kleingeld in der Hosentasche. Wie lange würde es wohl reichen?

"Fasse dich kurz! Ja, ist doch war. Sehen sie mal die Schlange!" Und dann wurde die Zelle geöffnet. Ein Mensch, der eben noch am Draht mit der Welt verbunden war, verwandelte sich von einem Telefonierer zu einem Aufleger und verschwand aus dem kleinen, gelben Theater nach irgendwo. Und man selbst hatte seinen Auftritt: alles parat. Wenn es gut lief. Also: Hörer ab. Unters Kinn geklemmt. Stank meistens. Die ersten zwei Groschen in den Schlitz. Mist, einer ist durchgefallen. Schabespuren auf grauer Lackierung. Half das eigentlich überhaupt was? Nochmal. Ah, jetzt ging es. Und wo war die Nummer? Die hatte ich doch irgendwo, na, hier? Gern fiel einem auch mal eine Münze auf den Boden. Die Karten später machten es übrigens auch nicht besser.

Klicken, tuten, nachwerfen

Tippen. Oder früher: drehen. Mechanik suchte Verbindung. Klickte. Hielt. Es tutete. Immerhin: ein Freizeichen. Dann: Es wurde abgenommen. Und die ersten Münzen fielen. Hektik. Hitze: gleichzeitig das sagen, was man unbedingt sagen wollte. Und nachwerfen. Mist, da musste erst der Richtige ans Telefon geholt werden. Hoffentlich nicht zu langsam. Nochmal nachwerfen. Schnell, nicht dass das... "Hallo?" Mist, jetzt war es doch weg.

Von draußen winkt schon der erste. Ja. Ich weiß: Fasse dich kurz. Aber das ist hier jetzt echt wichtig. Sonst wären wir ja nicht in die Telefonzelle gegangen. Kalter Rauch, feuchte halbe Telefonbücher. Übrigens fehlte immer genau die Hälfte A-K oder L-Z, die man brauchte, wenn man sie denn… "Hallo? Ja, ich bin es nochmal. Ja, war eben schnell weg. Ich bin in der Telefonzelle." Draußen genervte Blicke. Einer tippt sich auf die Uhr. "Was? Ja, nein, ich bin noch da. Aber gleich nicht mehr..., ich hab noch..." Nachschmeißen. Das letzte geben. Die letzte Patrone, also Münze. Und doch: War es je genug Zeit? Für das, was wirklich wichtig war? "Hör doch mal zu, ja, nein, ich wollte..., ich hab dich..., ich bin gleich..."

Die kleine gelbe Bühne an der Straßenkreuzung

Und dann war man es wirklich: weg. War es je deutlicher, furchtbar fühlbarer, dass Geld die Welt regiert? Wahrheiten, Erklärungen, Geständnisse für 20 Pfennige. Oder eben nicht. Man öffnete, nach einer starren Sekunde und dem klickenden Einhängen die schwere Drehtür. Quetschte sich raus und schlich von dannen. Man hatte seine Zeit gehabt. Seinen Moment. Was ich zu sagen hatte. In der kleinsten, geschlossenen, gelben, viereckigen Bühne, Kanzel, Ecke an der Straßenkreuzung, irgendwo und überall.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 11.11.2022 | 16:10 Uhr

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