Erich Kästner © PEN
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AUDIO: Erich Kästner: Ein Spiegelbild der deutschen Geschichte (2019) (15 Min)

Erich Kästner: Der Mann mit den vielen Gesichtern

Stand: 23.02.2024 06:00 Uhr

Schöpfer grandioser Kinderbücher, begnadeter Selbstdarsteller, Humorist, Sohn einer Helikopter-Mutter, geplagt von Schreibblockaden und Alkoholproblemen: Erich Kästner war ein Mann voller Widersprüche. Vor 125 Jahren kam er in Dresden zur Welt.

Erich Kästner liebte das Rollenspiel. In seinen Texten wimmelt es von Doppelgängern und Spiegelbildern, vertauschten Identitäten, Verkleidungen und Tarnkappen, von kindischen Erwachsenen oder vernünftigen Kindern. Und auch er selbst verbarg sich hinter mancherlei Masken.

"Ich werde mich, mit Ihrer Erlaubnis, in zwei Personen spalten, die beide meinen Namen tragen. So wird nun der Journalist Erich Kästner versuchen, Ihnen ein Bild des Schriftstellers Erich Kästner zu entwerfen", sagte er 1956 in einer Radiosendung. Er wollte sich damit darüber lustig machen, dass er nicht in eine Schublade zu stecken sei.

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Kästner selbst feilte an seinem Image

Dabei tat Kästner selbst einiges dafür, dass sein Privatleben nicht öffentlich verhandelt wurde. "Seine Lebensgefährtin hat seine erste Biografie geschrieben und da steht nichts drin, was ihm nicht gefallen hätte", sagt Sven Hanuschek, Professor für Germanistik in München und Herausgeber mehrerer Kästner Werke. Seine umfangreiche Biografie über den Schriftsteller trägt den Titel "Keiner blickte hinter das Gesicht".

Kästners Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit, seine Schuldgefühle, Schreibblockaden und Alkoholprobleme finden da keinen Platz. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben ihn nicht unbeschädigt gelassen, und seine Rolle im Dritten Reich ist ebenso zwiespältig wie sein Umgang mit Frauen.

Unter der überehrgeizigen Mutter wird er zum Musterknaben

Erich Kästner kommt 1899 in einer Dresdner Mietskaserne als einziger Sohn einer überaus ehrgeizigen Helikopter-Mutter zu Welt. Da bleibt dem Kind gar nichts anderes übrig, als ein Musterknabe zu werden. Er hat stets die besten Noten, ist fleißig und wohlerzogen. Kästners Vater, Emil, hat in dieser Familie nichts zu sagen. Ida erzählt ihrem Sohn sogar, dass Emil gar nicht sein Vater ist.

Dem Wunsch seiner Mutter folgend, wird Kästner mit 14 ins Lehrerseminar aufgenommen. Nach der Ausbildung erkennt Kästner allerdings, dass er für diesen Beruf nicht geeignet ist. Er macht sein Abitur nach und studiert in Leipzig Germanistik. Zugleich beginnt er als Journalist zu arbeiten, mit einem enormen Output - oft unter Pseudonym, damit die Kollegen nicht neidisch werden.

Ein Liebesleben wie ein "wildes Kaninchen"

Nach einer schmerzhaften Trennung von der Dresdner Chemikerin Ilse Julius, einer sehr emanzipierten jungen Frau, die er in seinem Gedicht "Die sachliche Romanze" verarbeitet, geht er lange Zeit keine feste Beziehung ein. Er hat ständig neue Affären, oft mehrere nebeneinander, belügt und betrügt seine Frauen.

"Es gibt einen Brief an eine Freundin so quasi entschuldigend. Er sei ein wildes Kaninchen, das täte ihm leid, aber da könnte er nicht raus", erklärt der Kästner-Experte Hanuschek. Die engste Beziehung hat er ohnehin zum "lieben guten Muttchen" in Dresden. Kästner schreibt der Mutter nahezu täglich und schickt seine schmutzige Wäsche.

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1927 zieht Erich Kästner nach Berlin. Er schafft es in Rekordzeit, Autor für sämtliche wichtige Zeitungen zu werden, und schreibt außerdem für die neuen Medien, Hörfunk und Film. Auch sein erster Gedichtband "Herz auf Taille" wird ein großer Erfolg. Kästner sieht sich als Gebrauchslyriker, will einfach und klar schreiben.

Den ganz großen Durchbruch schafft der 30-Jährige 1929 mit seinem ersten Kinderbuch: "Emil und die Detektive" wird ein Welterfolg. Kästner macht nicht nur die moderne Großstadt zum Schauplatz seines Romans, er verwendet auch die schnodderige Sprache, die in den Berliner Straßen gesprochen wird. Seine Helden mögen wohlerzogene Musterknaben sein, doch zugleich sind sie abenteuerlustig und furchtlos, und sie halten zusammen. Kein Wunder also, dass Kinder wie Erwachsene dieses Mutmach-Buch lieben.

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Kästner: Augenzeuge der Bücherverbrennung seiner Werke

Mit Hitlers Machtübernahme endet Kästners Karriere abrupt. Er selbst ist Augenzeuge, als seine Werke bei der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz in die Flammen geworfen werden. "Ich stand vor der Universität eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt. (...) Es war widerlich."

Der Schriftsteller darf jetzt nur noch im Ausland veröffentlichen. Er steht unter Beobachtung und wird zweimal von der Gestapo verhaftet.

Ich ging als lebender Leichnam durch die Straßen, ein verbotener, ein ausradierter Schriftsteller, beschimpft, bespitzelt und jeden Tag jede Stunde auf eigene Gefahr. Erich Kästner nach seinem Schreibverbot durch die Nazis

Nach seinem von Hanuschek herausgegebenen Tagebuch kann es ganz so schlimm allerdings nicht gewesen sein. Unter falschem Namen schreibt Kästner Komödien für Bühne und Film, genießt Sekt, Hummer, Orchideen und die saubere Wäsche vom Muttchen.

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Kästners Film sorgt bei Hitler für Wutanfall

Mit einer Sondergenehmigung von Goebbels soll Kästner 1943 ein Drehbuch verfassen, für den großen Jubiläumsfilm zum 25. Geburtstag der Ufa. "Münchhausen" ist der teuerste Film des Dritten Reichs. Der Film soll dem kriegsmüden Menschen auch zeigen, zu was das Land noch in der Lage ist.

"Das entspricht natürlich der Durchhalte-Logik", sagt Hanuschek. "Andererseits sind Sequenzen drin, die einfach ziemlich irrsinnig sind. Also es gibt so eine Cagliostro-Figur, das ist für mich eine Hitler-Karikatur", sagt der Historiker weiter. Prompt soll Hitler bei der Sichtung einen Wutanfall bekommen haben. Es folgt ein Totalverbot.

Nach dem Krieg wird er zum Friedensaktivist

In den letzten Kriegswochen kann Kästner mit gefälschten Papieren ein Filmteam nach Österreich begleiten. Da trifft er einen KZ-Überlebenden, der ihm haarklein von Auschwitz erzählt. Sein Bericht über die unvorstellbaren Gräueltaten trifft Kästner zutiefst. Ein Roman über das Dritte Reich zu schreiben, kommt für ihn nicht mehr infrage.

So berichtet Kästner in der Nachkriegszeit als Journalist von den Nürnberger Prozessen und verfasst aufklärerische Texte fürs Kabarett. Außerdem geht er auf die Straße zusammen mit jungen Leuten, protestiert gegen die Wiederaufrüstung oder gegen Atomwaffen.

Kästner schreibt aber auch weiter für Kinder, "Die Konferenz der Tiere" oder "Das doppelte Lottchen", sein größter Erfolg nach dem Krieg. Immer wieder besucht er Schulklassen. In den Kindern sieht er die Hoffnung auf eine bessere Welt.

Lasst euch die Kindheit nicht austreiben. Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch. Zitat von Erich Kästner

Dass seine letzten Jahre eher trübe sind, liegt auch an seinem aufreibenden Privatleben zwischen zwei Frauen in Berlin und München. Kästner erkrankt an Tuberkulose, trinkt immer mehr und schreibt immer weniger.

Am 29. Juli 1974 stirbt Erich Kästner im Alter von 75 Jahren an Krebs. Nicht nur seine Kinderbücher und Gedichte haben ihn überlebt. Auch vieles, was sie über die Verführbarkeit der Menschen geschrieben hat, bleibt aktuell.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 23.02.2024 | 08:20 Uhr

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