Tatjana Schnell: "Sinn verweist auf etwas Größeres"
Tatjana Schnell ist Professorin für Psychologie in Innsbruck und Oslo. Sie forscht empirisch zum Thema Lebenssinn - und sagt: "Sinn verweist auf etwas Größeres." Doch was bedeutet für Sie eigentlich Sinn?
"Mehr als das, was vor Augen ist", sagt die Forscherin. Sinn sei etwas, was wir wahrnehmen, wenn wir wahrnehmen, dass etwas auf etwas anderes verweise. Dass noch etwas dahinterstehe, was größer sei oder was danach komme.
Hat das nicht immer mit Bezogenheit zu tun? Also nicht unbedingt mit einer Zielsetzung, sondern der Erfahrung von Eingebundensein? Oder ist das jetzt schon subjektiv gesehen mein Lebenssinn, dass ich das frage?
Tatjana Schnell: Nein, das ist tatsächlich eine ganz zentrale Facette. Wenn man das Ganze empirisch untersucht, dann ist es wichtig herauszufinden, wie man es in erfahrbare Einheiten runterbrechen kann. Wenn wir Menschen einfach nur fragen, was ist dein Sinn, dann hat jede und jeder wahrscheinlich etwas anderes im Kopf. Und deshalb ist in der internationalen Forschung auch dieser Forschungsstrang, wo wir schauen, was steht denn dahinter, wenn Menschen sagen, ich finde mein Leben sinnvoll. Und eine Facette davon ist die Zugehörigkeit. Ich denke, das, was Sie gerade genannt haben, entspricht dem. Diese Bezogenheit im Sinne von: Ich kann mich auf irgendetwas in diesem Leben, auf dieser Welt beziehen, irgendwo gehöre ich dazu, irgendwo kann ich andocken. Ich habe einen Platz hier auf dieser Welt.
Welche Fragen oder Kategorien können hilfreich sein bei der Suche nach einem eigenen Lebenssinn?
Schnell: Hier ist es gut, wenn man nach diesen Merkmalen oder Kriterien schaut, anhand derer Sinn erlebbar wird. In der empirischen Sinnforschung habe wir vier Merkmale identifiziert, die im Allgemeinen mit Sinnerleben einhergehen. Die eine davon haben wir schon besprochen - die Zugehörigkeit. Es gibt noch drei andere, mit denen wir arbeiten. Die eine ist Bedeutsamkeit. Bedeutsamkeit klingt erst einmal ziemlich groß, meint aber nicht, dass ich bedeutsam bin, sondern, dass mein Handeln, mein Dasein etwas bedeutet. Das merke ich daran, dass ich Resonanz bekomme auf mein Handeln. Das zweite ist die Kohärenz. Kohärenz bedeutet, ich erlebe mein Leben als stimmig und passend. Man versteht es häufig besser über das Gegenteil. Diese Kohärenz ist gestört, wenn wir merken, eigentlich kann ich das, was ich bin, gar nicht sein. Ich kann nicht mich selbst leben, ich muss mich verstellen. Und das dritte ist, was man heute auch gerne "purpose" nennt. Das bedeutet Ausrichtung: Wo will ich eigentlich hin im Leben. Wenn eine von den vier Facetten nicht vorhanden oder erfüllt ist, dann kann das Sinnerleben auch infrage gestellt werden.
Welche Rolle kann der christliche Glaube bei der Frage nach Sinn spielen?
Schnell: Wir sehen anhand unserer Daten, dass Menschen, die religiös gefestigt sind oder spirituell leben, sehr viel Sinn gewinnen können. Vor allem dann, wenn diese Religiosität oder Spiritualität einen zentralen Stellenwert im eigenen Leben hat. Das sind allerdings relativ wenige Menschen, für die das eine solch hohe Bedeutung hat. Aber diejenigen, für die das eine hohe Bedeutung hat, da sehen wir, dass Sinn auch stark vorhanden ist. Das kann man sich gut erklären, wenn man diese vier Facetten noch einmal anschaut. Religiosität ermöglicht uns Zugehörigkeit. Im Sinne zu anderen Gläubigen, aber quasi auch in einem kosmischen Maßstab. Sie ermöglicht kohärentes Erleben, wenn es uns gelingt, unser Handeln auch nach dem Glauben auszurichten. Sie gibt klar eine Ausrichtung, eine Orientierung vor und ermöglicht auch das Erleben von Bedeutsamkeit. Wenn wir zum Beispiel den christlichen Glauben ansehen, dann heißt es: Du bist gewollt von Gott, du wirst gesehen, es ist wichtig, dass du da bist.
Sie haben Theologie studiert. Spielt Glauben für die Frage nach Sinn für Sie persönlich eine Rolle?
Schnell: Spielt sie tatsächlich weniger. Es kommt darauf an, wie man Glauben definiert. Wenn es dabei darum geht, was ich für wahr halte an Annahmen darüber, was ein Gott ist und wie ein Gott ist, dann ist das etwas, wo ich mich nicht gut in Beziehung zu setzen kann. Weil ich es schwer finde, diese göttliche Kraft mit menschlichen Begriffen zu belegen. Ich finde es aber wichtig, diese Möglichkeit offen zu halten und so zu leben, dass ich dieser Möglichkeit auch begegne, mit Dankbarkeit, Ehrfurcht und mit Demut. Das heißt also, diese Haltung ist mir wichtig. Nicht zu sagen, das gibt es nicht. Ich weiß nicht, ob es das gibt.
Weil es Ihnen dabei hilft, ein ethisch korrektes Leben zu führen, oder weil es Ihnen auch Trost gibt?
Schnell: Also ich würde mir nicht anmaßen, ein ethisch korrektes Leben zu führen. Ich finde, es ist eher eine Herausforderung, so zu leben. Ich finde es immer schwer, wenn man sagt, ja, Religiosität ist etwas, das man tut, weil es einem hilft, leichter mit etwas umzugehen. Ich finde, es ist eher eine Zumutung, diese Beziehung offen zu halten. Ich finde es schwierig. Und Trost gibt es mir auch nicht unmittelbar, aber ich erlebe es als ein Korrektiv dafür, Menschen als absolut wahrzunehmen. Als diejenigen, die in Kontrolle sind. Und von daher ist es für mich immer wieder ein Infragestellen und ein Öffnen für andere Möglichkeiten.
Sie sprechen in Ihrem Buch "Psychologie des Lebenssinns" nicht von dem Lebenssinn, sondern von Lebenssinn-Modellen. Würden Sie sagen, dass es darüber noch einen gespendeten oder einen gesetzten Lebenssinn für uns alle gibt?
Schnell: Ja, wie gesagt, wir untersuchen den Sinn im Leben, wo Menschen natürlich auch berichten, dass sie glauben, dass es einen Sinn für uns alle gibt. Und es steht mir überhaupt nicht zu, diese Möglichkeit abzuschreiben oder zu sagen, dass die nicht valide ist. Das ist gut möglich. Aber wichtig ist im Bezug auf das Sinnerleben auch für Menschen, die glauben, dass es diesen Sinn gibt, dass es zum Beispiel einen göttlichen Sinn gibt, die müssen es genauso wie alle anderen übersetzen in ihren persönlichen Sinn. Es gibt bei uns nur noch wenige Menschen, die tatsächlich ein Weltbild in toto übernehmen von einer Autorität und sagen, ich tue das, weil das irgendwo geschrieben steht oder weil das jemand sagt. Wir haben schon gelernt auch im Rahmen unserer Sozialisierung, in der langen Geschichte der Aufklärung, dass wir uns hinterfragen und überlegen, was glaube ich und warum glaube ich das. Und von daher ist es eben auch notwendig für die Menschen, die sagen, es gibt einen göttlichen Sinn, zu schauen, was heißt das jetzt? Was bedeutet das für mein Konsumverhalten? Was bedeutet das für meinen Umgang mit anderen Menschen, wie ich meine Freizeit gestalte? Also all diese ganz konkreten Dinge, die lassen sich nicht eins zu eins aus der Bibel ablesen.
Das Interview führte Susanne Richter. Redaktion: NDR
