Angst im Dunkeln: Mehr Sicherheit durch Selbstverteidigung

Stand: 15.01.2024 22:46 Uhr

Immer mehr Menschen setzen auf Pfeffersprays, Alarme oder gar Messer, um ihr Sicherheitsgefühl zu erhöhen. Doch Experten halten andere Maßnahmen für sinnvoller - etwa Selbstverteidigungstechniken.

von Anneke Müller

Das Bundeskriminalamt hat in den Jahren 2020 und 2021 eine bundesweite Studie zum Sicherheitsgefühl der Bevölkerung durchgeführt und dabei mehr als 46.000 Personen über 16 Jahren befragt. Das erschreckende Ergebnis: Fast 58 Prozent aller Frauen meiden aus Angst bestimmte öffentliche Orte, bei den Männern sind es immerhin 29 Prozent.

Nicht immer liegen den Bedenken tatsächliche Gefährdungssituationen zugrunde, häufig hängen solche Ängste auch mit dem subjektiven Gefühl der einzelnen Person zusammen. "Dass bei vielen Menschen gerade in letzter Zeit das Unbehagen im öffentlichen Raum wächst, hat wenig mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung zu tun", sagt Judith Hauber von der Kriminologischen Forschungsstelle des LKA Hamburg. Vielmehr würde die Problemwahrnehmung globaler Krisen wie Kriege oder Klimawandel unser allgemeines Sicherheitsgefühl negativ beeinflussen und dafür sorgen, dass wir unseren Alltag "gefühlt" unsicherer wahrnehmen. Die Hamburger Kriminalstatistik für das Jahr 2022 belegt beispielsweise, dass das Risiko, in Hamburg Opfer einer Straftat zu werden, im Langzeitvergleich so gering ist wie seit über 40 Jahren nicht mehr.

Selbstverteidigungs-Tools: Welche sind gefährlich, welche hilfreich?

Gerade in der dunklen Jahreszeit fühlen sich viele Menschen im öffentlichen Raum sicherer, wenn sie Hilfsmittel bei sich tragen, die sie im Notfall zur Selbstverteidigung einsetzen können. Christiane Wagner, Kriminalhauptkommissarin im Bereich Kriminalprävention bei der Hamburger Polizei sieht derartige Selbstverteidigungs-Tools jedoch kritisch: "In dem Moment, in dem man solche Instrumente zur Selbstverteidigung bei sich trägt, entsteht ein trügerisches Gefühl der Sicherheit und die Aufmerksamkeit, seine Umgebung bewusst wahrzunehmen, lässt automatisch nach." Das Wahrnehmen der Umgebung sei aber wichtig, um Notsituation überhaupt rechtzeitig erkennen zu können und alle Handlungsoptionen - wie beispielsweise durch lautes Schreien die Aufmerksamkeit anderer zu erregen oder wegzurennen - in Betracht zu ziehen.

Schreckschusswaffen und Messer: Das Mitführen von Schreckschusspistolen in der Öffentlichkeit ist ohne den Kleinen Waffenschein in Deutschland generell verboten. Bei Messern kommt es auf die Art der Klinge an, ob der Besitz legal ist oder nicht. Experten raten aber grundsätzlich dringend davon ab, solche waffenartigen Gegenstände dabei zu haben. Gerade bei Schreckschusswaffen ist kaum ein Unterschied zu einer echten Waffe zu erkennen. Der Gebrauch sei äußerst gefährlich und könne im schlimmsten Fall sogar zu einem Schusswaffengebrauch der Polizei führen.

Sprays mit Reizgas: Das Mitführen von Pfeffersprays und ähnlichen Reizgasen ist in Deutschland nur legal, wenn das Produkt als "Tierabwehrspray" gekennzeichnet ist. Das muss auf dem Produkt ausdrücklich vermerkt sein. Kriminalhauptkommissarin Christiane Wagner hält den Gebrauch von Reizgas in Notsituationen allerdings für nicht praktikabel: "Selbst wenn Sie das Spray direkt in der Hand haben und es nicht unten in der Handtasche liegt: Sie müssen es erst entsichern, dann schütteln. Dann müssen Sie prüfen, aus welcher Richtung der Wind kommt, damit Sie sich das Gas nicht selbst in die Augen sprühen und es kann natürlich auch dazu führen, dass Sie Ihren Angreifer noch aggressiver machen."

Verteidigungsstäbe: Ein sogenannter Kubotan - also ein kurzer Stab oder Stock aus Metall oder Holz - dient als Schlag- oder Druckverstärker und soll so beim Angreifer Schmerzreize auslösen. Solche Verteidigungsstäbe sind in Deutschland zwar legal, aber: "Der Gebrauch muss geübt werden - und das ist bei den Bürgerinnen und Bürgern meist nicht der Fall. Also raten wir dringend davon ab, so etwas mit sich zu führen, weil es im schlimmsten Fall gegen einen selbst gewendet und vom Täter eingesetzt werden kann", so Kriminalhauptkommissarin Wagner.

Schrill-Alarme und Trillerpfeifen: Sogenannte Taschenalarme sind kleine, handliche Geräte, die nach dem Drücken eines Knopfes einen bis zu 100 Dezibel lauten schrillen Ton von sich geben - so lange, bis der Nutzer den Alarm wieder deaktiviert. Experten halten solche Instrumente für sinnvoll, da sie die Aufmerksamkeit anderer Passanten auf die Notsituation lenken und den Täter bestenfalls in die Flucht schlagen.

Digitale Begleitung per App oder Heimwegtelefon

Auch das Smartphone kann helfen, den Heimweg sicherer zu machen. Mithilfe von Tracking-Apps wie Safe Now, Safe360 oder Familonet können Nutzer ihren Standort mit Familie oder Freunden teilen, wenn sie allein unterwegs sind. Manche Apps sind auch mit einem Notfallbutton ausgestattet. Wird dieser für mehrere Sekunden gedrückt, erhalten vorher festgelegte Kontakte einen Alarm. Allerdings haben solche Tracking-Apps auch Schwächen: Der SOS-Knopf ist nur bedingt hilfreich, wenn lediglich eigene Kontakte über die Notsituation informiert werden und nicht direkt Polizei- oder Rettungsdienste. Außerdem kann beispielsweise in Tunneln, Aufzügen oder Unterführungen das GPS-Signal unterbrochen sein, so dass der Standort der Person nicht richtig übermittelt wird.

Der Verein "Heimwegtelefon" bietet abends und nachts deutschlandweit eine persönliche telefonische Begleitung bis zum gewünschten Zielort an. Die Anrufer geben ihren Standort und das Ziel an die ehrenamtlichen Helfer durch, diese verfolgen die Route des Anrufers über Google Maps und erfragen immer wieder, wo sich der Anrufer zurzeit genau befindet. So können sie in Notsituationen schnell die Polizei oder den Rettungsdienst alarmieren. Das Angebot richtet sich nicht nur explizit an Frauen, sondern an alle Geschlechter.

Selbstverteidigungskurse: Seriöse Anbieter erkennen

Laut deutschem Recht darf sich jeder Mensch verteidigen, wenn eine Notwehrsituation vorliegt. Dies ist der Fall, wenn man angegriffen wird oder ein Diebstahl des Eigentums droht. Allerdings muss die Notwehr verhältnismäßig sein. Das heißt, die Reaktion auf einen Angriff darf nicht übertriebener sein als der Angriff selbst. Ist ein Täter bereits auf der Flucht oder kampfunfähig, dürfen keine Mittel zur Selbstverteidigung mehr eingesetzt werden.

Verteidigungstechniken können Laien sowohl in klassischen Kampfsportarten wie Judo, Karate oder Kickboxen erlernen als auch in speziellen Selbstverteidigungskursen. Besonders beliebt ist derzeit Krav Maga. Der Begriff stammt aus dem Hebräischen und bedeutet "Kontaktkampf". Ursprünglich für die israelische Armee entwickelt, vermittelt diese Methode effiziente Schlag-, Tritt- und Hebeltechniken.

Unabhängig von der Kampfart zeigen seriöse Anbieter in ihren Kursen auch auf, wie man Gefahren rechtzeitig erkennt, deeskalierend handelt und selbstsicher auftritt. "Körperliche Gewalt kann immer nur der allerletzte Schritt sein, der im besten Fall niemals angewendet werden muss", betont Krav Maga-Trainerin Isabella Semeraro aus Hamburg. Außerdem müssten Kursteilnehmende sich immer wieder kritisch hinterfragen, ob sie in Gefahrensituation überhaupt in der Lage wären, eine Hemmschwelle zu überwinden und körperliche Gewalt auszuüben. Regelmäßige und langfristige Trainingseinheiten seien unerlässlich, betont Semeraro. Kompaktkurse oder Wochenendseminare können laut der Krav Maga-Trainerin höchstens einen Einblick in die Möglichkeiten der Selbstverteidigung bieten, reichen aber nicht aus, um die Techniken tatsächlich zu erlernen: "Das wäre so, als würdest du sagen: Ich kann in vier Wochen lernen, eine neue Sprache zu beherrschen."

Tipps, wie man den richtigen Selbstverteidigungskurs für sich findet und seriöse Anbieter erkennt, gibt auch die Webseite der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes.

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Dieses Thema im Programm:

Markt | 15.01.2024 | 20:15 Uhr

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