Sankt Peter Ording in Nordfriesland, Kinderheim Heimattreue, spielende Kinder © picture alliance / Arkivi/akpool GmbH | Foto: picture alliance / Arkivi/akpool GmbH |

Verschickungskinder: Studie sieht keine Belege für systematische Gewalt

Stand: 11.10.2022 20:36 Uhr

Eine Studie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat sich mit dem Missbrauch an Verschickungskindern in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt - und dazu auch Betroffene befragt.

von Laura Albus

Untersucht wurde die Zeit der Kinderverschickung in St. Peter-Ording in Nordfriesland - historisch und sozialwissenschaftlich. Die Ergebnisse der Studie haben die Forschenden am Dienstag in St. Peter-Ording vorgestellt. Also genau dort, wohin zwischen 1950 und 1990 etwa 325.000 Kinder verschickt wurden.

Die persönliche Erfahrung

Er war fünf Jahre alt, als er "ans Ende der Welt" verschickt wurde. Das zumindest dachte Jörg Römer vor heute fast 50 Jahren, als er ohne Eltern von Rheinland-Pfalz aus nach St. Peter-Ording geschickt wurde. Der Kinderarzt hatte Lungenprobleme bei ihm diagnostiziert, weshalb Jörg Römers Eltern ihn in eines der sogenannten Erholungsheime sendeten. Fünf Wochen blieb er dort - eine Zeit, die den Mann bis heute prägt. Denn er hat dort verschiedene Arten von Gewalt erlebt.

Der wissenschaftliche Blick

Für die Forschenden der Uni Kiel sind Erfahrungsberichte wie die von Jörg Römer wichtig - aber nicht die einzige Quelle. In der Studie ging es nicht darum, Einzelberichte zu bestätigen oder zu widerlegen, sondern vielmehr, eine etwaige Systematik hinter den Einzelschicksalen zu erkennen und zu belegen. Dafür haben der Historiker Dr. Helge-Fabien Hertz und der Soziologe Prof. Dr. Peter Graeff wissenschaftliche Interviews geführt, Daten ausgewertet und auch mit ehemaligen Heimbetreibern gesprochen. Diese ergaben eine auffällige "Diskrepanz zwischen den berichteten vielfältigen Gewalterfahrungen und der Aktenlage in Archiven sowie den Berichten des Heimpersonals und von Verschickungskindern mit neutralen beziehungsweise positiven Erfahrungen."

"Die Berichte können nicht belegen, dass es systematische Gewaltanwendungen aus niederen oder ideologischen Beweggründen gab (wie z.B. Sadismus)." Zitat aus der Studie

Obwohl es also zahlreiche Betroffenenberichte wie die von Jörg Römer gibt, haben die Forschenden auch Aussagen von Betreuern analysiert. Dort heißt es beispielsweise in einem Archivmaterial von 1961: "Anstatt Strafe anzuwenden, versuchte ich mit Güte auszukommen, aber hin und wieder war eine Tracht Prügel angebracht." Daheim werde der Junge "immer streng" bestraft. "Prügel waren ihm nichts Neues". In ihrer Arbeit haben Helge-Fabien Hertz und Peter Graeff zahlreiche Quellen zusammengetragen, die "nicht belegen, dass es systematische Gewaltanwendungen aus niederen oder ideologischen Beweggründen gab", heißt es in der Studie.

Seminar rund um schleswig-holsteinische Kinderverschickung geplant

"Die Diskrepanz zwischen der staatlichen Gesundheitsfürsorge und den Berichten vieler Verschickungskinder lässt nicht den Schluss zu, dass diesen Berichten keinen Glauben geschenkt werden sollte. Vielmehr sind die berichteten Erlebnisse ernst zu nehmen und in ihrer Darstellung zu würdigen." Zitat aus der Studie

Doch, obwohl es offenbar keine Belege für eine ideologische Systematik gebe - den Betroffenen sei zu glauben. "Die berichteten Erlebnisse sind ernst zu nehmen und in ihrer Darstellung zu würdigen." Das heißt, auch für die Betroffenen geht ihre individuelle Suche nach dem, was sie als Kind in St. Peter-Ording erlebt haben, weiter. Und auch die beiden Forscher haben das Thema Kinderverschickung aber noch nicht fertig analysiert: Deshalb wollen Soziologe Peter Graeff und Historiker Helge-Fabien Hertz das Thema in der universitären Lehre fest verankern. Dafür wollen sie im kommenden Wintersemester an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ein interdisziplinäres Seminar mit dem Titel "Schleswig-Holsteinische "Kinderverschickung" 1945-1990. Devianzforschung im Spiegel der Oral History" anbieten - und somit noch tiefer in die Materie einsteigen.

Geschichte der Kinderkuren begann kurz nach dem Krieg

Die Kinderkuren von drei bis sechs Wochen Dauer begannen bereits kurz nach dem Krieg, um sogenannten Bunkerkindern Erholung zu verschaffen. In der Blütezeit der Verschickung in den 1950er- und 1960er-Jahren gab es etwa 30 Heime in St. Peter-Ording. Für alle Bundesländer der damaligen Bundesrepublik wird die Zahl der in Kuren verschickten Kinder von 1945 bis 1990 nach unterschiedlichen Berechnungen auf sechs bis acht Millionen oder sogar auf zwölf Millionen geschätzt.

Weitere Informationen
Jörg Römer (l.) und Stefan Braunisch.

Trauma durch Gewalt: Betroffene kehren nach 50 Jahren zurück

Als Kinder erlebten sie Gewalt in der Kur in St. Peter-Ording. 50 Jahre später kehren die Betroffenen zurück. mehr

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Schleswig-Holstein Magazin | 11.10.2022 | 19:30 Uhr

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