Stand: 22.05.2018 14:48 Uhr

Flüchtlinge: Todesangst im Container

von Philipp Hennig & Sinje Stadtlich
Markus Mattersberger, Hafenarbeiter am Lübecker Hafen
Hafenarbeiter Markus Mattersberger kam den Flüchtlingen zur Hilfe.

Sonntag vergangener Woche im Lübecker Hafen: Gerade war Markus Mattersberger dabei, mit anderen Hafenarbeitern einen Container von einem Zug abzuladen. Da stand plötzlich ein Mann vor ihm - und brach zusammen. "Ich habe gefragt: 'Was ist los?' Er sagte nur: 'Help! Help!' Ich war total erschrocken", berichtet Mattersberger.

Der geschwächte Mann führte ihn zu einem Container mit Planwänden, einem sogenannten Trailer. "Da war die Plane aufgeschlitzt, und da habe ich dann nur einen Säuglingskopf rausgucken sehen." Die Hafenarbeiter riefen die Rettungsdienste und halfen den zwölf Flüchtlingen aus dem Trailer. Markus Mattersberger erzählt, dass alle erschöpft waren und sofort nach Wasser gefragt hätten. "Sie konnten kaum noch laufen", so Mattersberger, "wir mussten sie stützen, alleine hätten sie es nicht geschafft."

VIDEO: Flüchtlinge: Todesangst im Container (9 Min)

Flucht aus Sierra Leone

Sechs Erwachsene, sechs Kinder, davon zwei Säuglinge aus Sierra Leone und Nigeria sind nun in Flüchtlingsunterkünften untergekommen. Reporter von Panorama 3 trafen in Horst den Mann, der für die Flüchtlingsgruppe nach Hilfe suchte. Er heißt Thomas und floh gemeinsam mit seiner Schwester, der Frau seines Bruders und deren fünf Kindern aus Sierra Leone.

Thomas erzählt, dass ihm ein Mann aus Nigeria den Zug in Italien gezeigt und gesagt hätte, er solle einsteigen und seine Familie retten. Geld hätte er nicht von ihm verlangt. Die Familie stieg ein. Dass der Zug auf dem Weg nach Skandinavien war, hätten sie nicht gewusst. Und so fuhren sie von Italien von Freitagabend bis Sonntag früh als blinde Passagiere bis nach Lübeck.

36 Stunden ohne Nahrung oder Wasser

"Wir hatten nichts zu essen, nichts zu trinken", erzählt Thomas. In der Nacht hätten sie gefroren, am Tag in der Sonne sei es heiß geworden. Auf eine so lange Reise - sie dauerte 36 Stunden - seien sie nicht vorbereitet gewesen. Die Mütter fürchteten um das Leben ihrer Kinder: "Die Kinder weinten, selbst wir, die Erwachsenen, wir weinten", sagt Abibacu, Thomas' Schwester.

Als der Zug zum Stehen kam, wollte Thomas Hilfe suchen. "Das hier bringt sie vielleicht alle um, dachte ich", so Thomas, "ich musste raus, was immer passieren würde, aber ich konnte das Leben meiner Familie nicht weiter riskieren." Als er durch ein Loch in der Plane hinausschaute, sah er Tore und Verladekräne, die sich hin- und her bewegten. Dann traf er auf Hafenarbeiter Markus Mattersberger.

Bisher kaum Flüchtlinge in Güterzügen im Norden

Gerhard Stelke, Bundespolizei
Aus Sicht von Bundespolizist Gerhard Stelke sind Flüchtlinge in Güterzügen in Schleswig-Holstein ein neues Phänomen.

Immer wieder versuchen Migranten, die in Italien festhängen, in den großen Güterbahnhöfen von Verona, Triest oder Novara in Container zu gelangen und Richtung Norden zu reisen. Unerlaubte Einreisen in Containern sind für die Bundespolizei in Schleswig-Holstein allerdings neu. "Es ist selten, dass ein Güterzug mit Flüchtlingen bis nach Schleswig-Holstein gelangt", sagt Bundesploizist Gerhard Stelke. "Dahingehend ist es schon ein Sonderfall, allerdings haben wir Reisen von Flüchtlingen mit Güterzügen erst seit fünf, sechs Monaten." Konkrete Zahlen für Schleswig-Holstein gibt es dazu nicht. Bundesweit allerdings steigt die Zahl der Flüchtlinge, die durch Gütertransporte unerlaubt die Grenzen übertreten.

Bundespolizei ermittelt gegen Schleuser

Die Behörden kündigten verstärkte Kontrollen an. Die Bundespolizei hält die Flucht mithilfe eines Schleusers für wahrscheinlich, da ganze Familien aus verschiedenen Ländern im gleichen Container waren. "Unsere Erfahrung sagt uns, dass Schleuserorganisationen dahinterstecken", so Gerhard Stelke. Es reiche ja schon, wenn man den Flüchtlingen sage, dass auf dem Gleis ein Zug stehe und sie sich dort ein Versteck suchen könnten. Die Bundespolizei ermittelt deshalb gegen mögliche Hintermänner der Schleusung.

Flüchtling Thomas aus Sierra Leone
Will in Deutschland bleiben: Thomas aus Sierra Leone.
Hoffnung auf Asyl

Die Familie von Thomas wird in Deutschland Asyl beantragen. Am 15. Juli 2017 verließen sie laut Thomas ihre Heimat - aus Angst vor Geheimbünden. Diese hätten in Sierra Leone großen gesellschaftlichen Einfluss und werden oftmals als Grund angegeben, warum Menschen aus Sierra Leone in Deutschland Asyl beantragen. Die Flucht der Familie führte sie aus Sierra Leone, über Guinea, Mali, Libyen und Italien nach Deutschland. "Wir sind so weit gekommen, haben unser Leben riskiert", sagt Thomas, "nun hoffen und beten wir dafür, dass wir bleiben dürfen."

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 22.05.2018 | 21:15 Uhr

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