Der Bahnhof von Brokstedt im Winter mit Schnee. © NDR Foto: Sofia Tchernomordik

Brokstedt: Wie überlebst du, wenn dein Kind stirbt?

Stand: 24.01.2024 09:50 Uhr

Am 25. Januar 2023 sind in einem Regionalzug in Brokstedt in Schleswig-Holstein zwei Jugendliche getötet worden. Ein Jahr später kämpfen sich die Hinterbliebenen Schritt für Schritt durch einen Alltag, an dem nichts alltäglich ist.

von Sofia Tchernomordik

"Für den Fall, dass dir das heute noch niemand gesagt hat: Du bist wunderschön", dieses Post-it, auf Englisch, klebt an Ann-Maries Tisch in ihrem Kinderzimmer mit weißen Möbeln und einem Meer aus bunten Buchrücken. An dem Januarmorgen schnappte sie ihre Schulsachen und die Thermoskanne mit Kaffee und fuhr mit ihrem Vater wie immer mit zu seiner Arbeit nach Elmshorn. Sie sang und plapperte vor sich hin, wird er sich später erinnern. Eine halbe Stunde hatten sie noch zusammen, da wusste er noch nicht, dass es das letzte Mal sein wird, dass er seine Tochter singen hört.

Fünf Tage vor der Tat wurden Ann-Marie und Danny ein Paar

Jeden Morgen nahm Ann-Marie Kyrath den Regionalexpress von Elmshorn nach Neumünster. In diesem Zug saß auch regelmäßig Danny. Sie stellten bald fest, dass sie weitaus mehr verbindet als nur der Schulweg, und sie wurden bald ein Paar. Sie waren erst fünf Tage zusammen, als im Zug auf ihrem Weg aus der Schule nach Hause der Angreifer auf Ann-Marie mit dem Fleischmesser einstach. Danny versuchte, sie zu beschützen, und warf sich dazwischen, wird später die Staatsanwaltschaft vortragen. Einer der Stiche ging direkt durch sein Herz.

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Kerzen und Blumen stehen und liegen im Bahnhof Brokstedt in einem Wartehäuschen. Bei einer Messerattacke in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg waren am 25.01.2023 in Brokstedt zwei junge Menschen getötet und weitere verletzt worden. © picture alliance/dpa Foto:  Daniel Bockwoldt

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Nach dem ersten Schock brachte dieses Unglück zahlreiche Fragen mit sich. Wie konnte das passieren? Hätte es nicht verhindert werden können? Wer ist schuld?

Familien von Ann-Marie und Danny lernen sich kennen

Ann-Maries Zimmer haben Michael und Birgit Kyrath so gelassen, wie ihre Tochter es an dem Morgen des 25. Januar, wenige Stunden vor ihrem Tod, hinterlassen hatte. Nur ihr liebstes Kleidungsstück, ein maßgeschneidertes langes, blaues Kleid haben sie aus dem Schrank herausgenommen. In diesem Kleid wurde Ann-Marie drei Wochen nach ihrem 17. Geburtstag beerdigt.

Das Kreuz am Bahnhof von Brokstedt für die verstorbenen der Messerattacke Danny und Ann-Marie. © NDR Foto: Sofia Tchernomordik
Die Familien von Ann-Marie und Danny kannten sich vor der Tat nicht. Die beiden sind erst wenige Tage vor der Messerattacke ein Paar geworden.

Für die Familien von Ann-Marie und Danny gibt es vor allem eine Frage: Wie überlebst du, wenn dein Kind stirbt? Die Wege, mit einem Trauma und auch einem Verlust umzugehen, sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sie gehen. Ann-Marie und Danny haben es nicht mehr erlebt, wie sich ihre Familien kennenlernen. So nah der Tod der Kinder die Familien zusammengeschweißt hat, so anders bewältigen ihre Väter ihren Verlust.

Freunde helfen der Familie Kyrath

"Was hilft uns weiter?", Michael Kyrath hält inne. "Wir sind Gott sei Dank von vielen lieben Menschen umgeben, die uns bisher gestützt und getragen und uns geholfen haben, und auch die viele Unterstützung durch die Öffentlichkeit." Bereits am Abend der Tragödie versammelten sich ihre Freunde bei ihnen im Wohnzimmer. Sie erstellten über Wochen regelrecht Dienstpläne, wer wann bei den Kyraths ist, wer für sie kocht und auf sie Acht gibt. "Wenn es sie nicht gegeben hätte, würde es uns jetzt nicht mehr geben", sagt Michael Kyrath.

Vater redet über den schlimmsten Tag seines Lebens

Er wandte sich bald an die Öffentlichkeit. Er sprach mit Journalisten und Journalistinnen, besuchte Talkshows und redete schonungslos über den schlimmsten Tag seines Lebens. Einen, den er nicht seinem schlimmsten Feind wünscht, wie er sagt. Auf diese Art möchte er, dass Ann-Marie und Danny nicht vergessen werden: "Aber vor allem, dass auch bei den politischen Entscheidungsträgern so etwas nicht als verstaubter Aktenordner in irgendeinem Keller landet. Es ist für uns ein inneres Anliegen, dass sie daraus lernen", sagt Kyrath. "Es ist dringend von Nöten, dass auf Bundesebene die Entscheidungen getroffen werden, um solche Taten in Zukunft zu verhindern."

Ann-Marie war in der katholischen Gemeinde von Elmshorn Messdienerin. In den stillen Momenten helfen Michael Kyrath die Gemeinde und Gott, wie er sagt. Auch der gewaltsame Tod seiner Tochter konnte seinen Glauben nicht erschüttern. Eine Anbindung an die Menschen ist für ihn wichtig, auch durch die Arbeit in seinem Dentallabor.

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Weltweit berichten Medien über Brokstedt

Das Interesse der Medien nach dem Messerangriff von Brokstedt war immens - von der New York Times über britische Zeitungen bis hin nach Asien und erst recht in Deutschland wollten die Menschen einen Einblick haben in die Hintergründe der Tat und die gewaltsam beendeten Leben der Todesopfer. Je intensiver die Berichterstattung wurde, desto mehr zog sich die Familie von Danny zurück. Je mehr sie sich zurückzogen, desto unverschämter wurden die Methoden, um an sie heranzukommen.

Der Kummer hat die Familien von Ann-Marie und Danny eng zusammengebracht. Sie verbringen viel Zeit miteinander, feiern und weinen gemeinsam - und auch das gibt den Familien Kraft.

"Aufgeben ist keine Option"

In ihrem Zimmer lacht Ann-Marie Arm in Arm mit Freundinnen auf eingerahmten Bildern. Jede Fotografie ist eine Katastrophe, soll der Philosoph Roland Barthes geschrieben haben, wir sehen darin immer auch den Schrecken einer in der Vergangenheit liegenden Zukunft. Und für viele stellt sich die Frage: Wie überlebst du in einem Haus, wenn die Leere eines Kinderzimmers alles Leben drumherum verschluckt? Darauf kennt Michael Kyrath die Antwort: "Ann-Marie sagte immer 'Aufgeben ist keine Option'. Das sagen wir uns in jeder Minute jeden Tag", und da stimmt der Vater von Danny zu.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 25.01.2024 | 19:30 Uhr

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