Missbrauchs-Netzwerk: Uni Lüneburg startet Aufklärung um Professor

Stand: 13.05.2024 21:34 Uhr

Der Lüneburger Professor Herbert Colla war Teil eines pädophilen Netzwerkes. Wie es dazu kommen konnte, soll nun eine Expertenkommission klären.

von Benedikt Bathe und Marlene Kukral

"Ich hatte mir das nicht ausgemalt, aber das passte für mich sofort!", sagt Christiane Ludwig-Körner heute. Lüneburg als Knotenpunkt eines bundesweiten pädophilen Netzwerks - das hätte hier vor Anfang des Jahres kaum jemand kommen sehen. Ende Februar erschien ein Forschungsbericht der Universität Hildesheim, der den langjährigen Lüneburger Professor Herbert Colla, gestorben 2017, als Schlüsselfigur eines Netzwerks pädophiler Sozialpädagogen ausmacht. Nicht nur Christiane Ludwig-Körner, die zeitgleich mit Colla an der Hochschule in Lüneburg gearbeitet hat, stellt sich seitdem die Frage, wie das passieren konnte.

Sexueller Missbrauch von Kindern auch in Lüneburg

Die Forschenden aus Hildesheim hatten eigentlich einen anderen Sozialpädagogen im Blick, der durch pädophile Verstrickungen aufgefallen war: Helmut Kentler. Im Zuge ihrer Recherchen wurde allerdings deutlich, dass das Beziehungsgeflecht um Kentler weiter reichte als bislang bekannt. Es könne "gegenwärtig als belegt festgehalten werden, dass Gerold Becker, Herbert E. Colla und Helmut Kentler sexualisierte Gewalt ausgeübt haben", heißt es im Ergebnisbericht. Gerold Becker war der frühere Leiter der Odenwaldschule. Colla habe im Rahmen des "Kentler-Experiments" mehrere Pflegekinder bei sich aufgenommen, mindestens einen Schutzbefohlenen soll er sexuell missbraucht haben, etwa durch Küsse auf den Mund gegen den Willen des Jungen. Die Forschenden stützen sich dabei auf Schilderungen von Betroffenen. Außerdem habe Colla das Netzwerk weiter ausgebaut.

Das "Kentler-Experiment": Missbrauch im Namen der Wissenschaft

Helmut Kentler war in der Bundesrepublik ein anerkannter Sexualaufklärer, der sich für einen unverkrampften Umgang mit dem Thema Sex einsetzte. Woraus er keinen Hehl machte: Dazu gehörten für ihn auch Sexualkontakte zwischen Jugendlichen und Erwachsenen. Von 1976 bis 1996 lehrte Kentler an der Universität Hannover. Erst lange nach seinem Tod 2008 fanden jene, die seine Pädophilie verharmlosenden Positionen kritisierten, in der Öffentlichkeit Gehör.
Mehrere Studien haben mittlerweile ein besonders düsteres Kapitel in Kentlers Biografie beleuchtet: das sogenannte "Kentler-Experiment". Auf Kentlers Betreiben hin sind seit Ende der 1960er- bis in die frühen 2000er-Jahre Pflegekinder an Pädophile vermittelt worden - mit Hilfe des West-Berliner Jugendamts. Nur Pädophile könnten den oftmals schwer erziehbaren Kindern die Liebe geben, die sie bräuchten, so die haarsträubende Logik dahinter. Dass es dabei zu Missbrauch kommen könnte, nahm Kentler in Kauf.

Hochschule Lüneburg im Zeichen der 68er-Proteste

Urzula Dzieia kam als Pressesprecherin an die damalige Pädagogische Hochschule in Lüneburg, als Colla dort lehrte. Professoren und Studierende hätten unter dem Eindruck der 68er-Proteste gestanden, erinnert sich Dzieia heute. Vieles schien möglich: "Es ging um Freiheit in der Kindererziehung, es ging um Freiheit zwischen Partnern, es ging um Freiheit in Bezug auf Homosexuelle und Lesben." Errungenschaften, die Dzieia nicht bereut. Ihre Generation hätte sich aber schon damals Fragen stellen müssen: "Was hat das eigentlich für Konsequenzen? Was können Partner aushalten? Was können Kinder aushalten?", so Dzieia.

Welche Verantwortung hatten die Behörden?

Für den Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers gilt es außerdem, die Rolle der Jugendämter zu hinterfragen: "Das Besondere an Kentler und Colla ist, dass das ja gar keine Familien waren. Das waren einfach Professoren, die aufgrund dessen, dass sie ihren Status ins Spiel gebracht haben und ihrer Expertise als kompetent galten, um mit den Kindern umzugehen." Auch diese Verantwortung müsse beleuchtet werden.

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Pädophiles Netzwerk: Betroffene brechen ihr Schweigen

Das wahre Ausmaß des Netzwerks, die Zahl der Täter und der Betroffenen, bleibt bis heute im Dunkeln. Für ihren Ergebnisbericht haben die Forschenden aus Hildesheim mit sechs Betroffenen gesprochen. Seit der Veröffentlichung hätten sich weitere Betroffene bei der Gruppe gemeldet, bestätigen die Forschenden dem NDR Niedersachsen. Sie haben den Betroffenen Anonymität zugesichert.

Universität Lüneburg will Fall aufarbeiten

Die Universität Lüneburg will nun eine unabhängige Expertenkommission berufen. Die Kommission soll dabei auch Collas wissenschaftliches Wirken aufarbeiten. Die Forschenden aus Hildesheim konzentrierten sich hauptsächlich auf die Rolle des betroffenen Landesjugendamts in West-Berlin. Das Land Berlin fordert, dass nun auch Untersuchungen in anderen Bundesländern angestoßen werden - das Land Niedersachsen solle sich daran finanziell beteiligen. Berlins Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) will die Aufarbeitung daher auf der nächsten Familienministerkonferenz am 23. und 24. Mai zum Thema machen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Regional Lüneburg | 13.05.2024 | 07:30 Uhr

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