Kommentar zum Kirchentag in Hannover: Mehr Mut, bitte!
Der Evangelische Kirchentag in Hannover war ein gelungenes Glaubensfest, herzerwärmend und identitätsstiftend. Aber war das Christentreffen auch mutig, wie es das Motto vorgab?
Kirchentag in Hannover: Eine Zusammenkunft an der Leine und zugleich völlig losgelöst von so mancher Tristesse im Alltag. Ein fröhliches Glaubensfest, reich an Höhepunkten in der norddeutschen Tiefebene. Lichtermeer, Segensfeier auf dem Maschsee, 74-Stunden-Mitsing-Kirche. Stärkend, herzerwärmend. Aber war der Kirchentag in Hannover auch mutig, wie es das Motto vorgab: Mutig, stark, beherzt? Als begeisternde Kraftquelle für kirchlich Hochverbundende in stürmischen Zeiten war er zweifellos ein Erfolg. Beim Thema Mut aber, da verließen den Kirchentag zum Teil die Kräfte. Besonders deutlich wurde dies bei den großen Podien. Und damit ist ausdrücklich nicht gemeint, dass Diskussionsrunden so besetzt sein sollen, dass es dort vor allem laut knallt und klickträchtig die Fetzen fliegen.
Vielstimmige Kontroverse ausgespart
Rassismus, Hass und Hetze haben auf einem Kirchentag nichts zu suchen. Das ist unstrittig und richtig so. Es bleibt aber ein Störgefühl, wenn mantraartig ausgerufen wird, dass der Kirchentag eine breite Dialogplattform biete und ein vielfältiger Verständigungsort sei, bei so wichtigen Themen wie zum Beispiel Krieg und Frieden oder sexualisierter Gewalt aber die vielstimmige Kontroverse ausgespart wird.
Vielfalt ja, aber selten auf einer gemeinsamen Bühne
Man fragt sich schon: Ist es wirklich so schwer, zum Beispiel die Pazifistin und Theologin Margot Käßmann mit dem ehemaligen Verteidigungsminister und Mitglied des Kirchentagspräsidiums Thomas de Maizière auf einem Podium zum Thema Frieden zusammenzubringen? Warum sitzen beim Thema Missbrauch neben Betroffenen, die sich innerhalb von evangelischen Strukturen engagieren, auf einem Hauptpodium nicht auch kirchenkritische Betroffene, die bewusst Druck von außen machen wollen? Eine Kirche des Worts, die sich ihrer Vielstimmigkeit rühmt, wirkt an dieser Stelle seltsam verdruckst und kontrollfixiert. Eine Vielfalt von Positionen kam in Hannover schon irgendwie auch vor, aber eben oft an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeiten.
Mehr Mut zum ehrlichen Streit
Dabei - es geht ja! Das hat doch auf dem Kirchentag die zuvor von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner mitausgelöste Debatte gezeigt, in der es um die Frage ging, wie politisch die Kirche sein soll. Deshalb: Mehr Mut zum ehrlichen Streit, zum Aufstechen von Meinungsblasen - auch der kirchlichen, mehr Mut zur Vielfalt der besten Argumente an gemeinsamen Orten! Eine gepflegte Konfliktkultur, die ihren Ausdruck in humanen, klugen und kontroversen Positionen findet. All das ist eben nicht gleichbedeutend mit dem Verlust von christlicher Identität und demokratischer Kultur.
Mehr Mut, bitte, ihr Lieben!
Der Kirchentag ist wichtig, der Alltag wichtiger
Einen hämischen Abgesang hat der Kirchentag gleichwohl nicht verdient. Denn er wird gebraucht: als Identitätsstifter, als Ort der Sinnsuche und Resonanzboden eines konkreten christlichen Engagements vor Ort. Bunter Ausdruck dafür ist auf Kirchentagen der so genannte "Markt der Möglichkeiten". In Messehallen präsentieren sich vielfältige Initiativen, Gruppen, Vereine und kirchliche Verbände. Stand reiht sich an Stand. Stillstand gibt es nicht. Die Auswahl ist groß. Dieser Markt ist eine riesige begehbare Suchmaschine, in der Menschen versuchen können, gute und nachhaltige Antworten auf die großen und kleinen Fragen des Lebens und des Alltags zu finden. Denn dort, im Alltag, und nicht bei einem fünftägigen Glaubensfest mit vielen Gleichgesinnten entscheiden sich letztendlich das Leben und Christ sein.
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