Oderkatastrophe tötet Störnachwuchs aus Born

Stand: 30.08.2022 06:57 Uhr

Durch die Umweltkatastrophe an der Oder sind auch mindestens 20.000 Baltische Störe verendet. Sie gehörten zu einem Wiederansiedlungsprojekt, das in Mecklenburg-Vorpommern ansässig ist.

von Franziska Drewes

Der Stör ist ein lebendes Fossil. Gerade erst hat die Weltnaturschutzunion (IUCN) eine aktualisierte Rote Liste veröffentlicht. Demnach sind Störe weltweit die am stärksten vom Aussterben bedrohte Tiergruppe. Seit Jahren befassen sich Wissenschaftler im Ostseeraum damit, den Baltischen Stör wieder anzusiedeln. Vorn dabei sind die Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft und Fischerei und das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Doch die Umweltkatastrophe an der Oder hat ihre Arbeit um Jahre zurückgeworfen.

Einzige erfolgreiche Geburtsstube in Born auf dem Darß

In einer Halle in Born auf dem Darß plätschert frisches Wasser in mehrere Becken. Darin schwimmen Störe, die unterschiedlich groß und alt sind, teilweise nur so lang wie ein Daumen. In Born befindet sich Mecklenburg-Vorpommerns Aquakulturforschungsanlage. Seit über 30 Jahren wird hier an der Haltung und Zucht von Fischen gearbeitet, seit 17 Jahren auch der Baltische Stör gehalten. Die Becken sind seine Geburtsstube, erzählt Christin Höhne. "Den Baltischen Stör zeichnet aus, dass er sein Leben in der Ostsee verbringt. Es ist ein Wanderfisch, der als erwachsenes Tier wieder in die Flüsse seiner Herkunft zieht und dort ablaicht. Der Baltische Stör ist allerdings im Ostseeraum ausgestorben." Das letzte Tier wurde 1996 in Estland gefangen. Die junge Biologin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft und Fischerei. Sie hilft mit, den Baltischen Stör wieder anzusiedeln.

Forscher setzen geschlüpfte Larven in die Oder

In Born leben europaweit die einzigen Elterntiere, die im geschützten Raum erfolgreich den Baltischen Stör reproduzieren und das seit 13 Jahren. 18 männliche und 10 weibliche Tiere sorgen für Nachwuchs. Seit 2010 sind in Born bislang rund acht Millionen Baltische Störe geschlüpft. Allein im vergangenen Jahr waren es 1,2 Millionen Tiere. Die kleinen fressfähigen Larven werden zur weiteren Aufzucht zumeist an die Oder gebracht. Sie leben dort in Aufzuchtanlagen, die ständig durch das Flusswasser gespeist werden. Ungefähr 30.000 Tiere wurden dort zum Zeitpunkt der Umweltkatastrophe gehalten.

Gift im Fluss tötet 20.000 seltene Störe

Partner an der Oder zur Wiederansiedlung des Baltischen Störs ist das Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Dr. Jörn Geßner ist quasi das lebende Gedächtnis des Projektes. Der Fischereibiologe ist seit 1994 dabei. Solange befasst sich Deutschland mit der Wiederansiedlung des Baltischen Störs. Anfangs mussten Wissenschaftler erst einmal erforschen, welche Störart genetisch in die Ostsee passt. Seit 2002 steht fest, es ist der Atlantische oder Baltische Stör, nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Stör, der vom Schwarzen Meer bis zur Nordsee vorkam. Umso trauriger ist der Wissenschaftler, dass er so zahlreich Jungtiere verloren hat. "20.000 Störe sind tatsächlich verendet und 10.000 haben wir in einer Nothilfeaktion noch in angeschlossene Nebengewässer gesetzt." Was aus ihnen geworden ist, ist noch unklar, wird aber im Herbst Gegenstand von Untersuchungen sein.

Tiere sind zumeist erstickt

Der Biologe Geßner und viele Mitstreiter des IGB haben im Oderwasser stark erhöhte Vorkommen einer Algenart nachweisen können. Diese Alge kommt ausschließlich im Brackwasser vor und benötigt erhöhte Salzgehalte, um zu überleben. Die Oder führt aber eigentlich Süßwasser. Abwässer müssen also in den Fluss gelangt sein, zum Nachteil der vielen Tiere. Das Algengift ist besonders gefährlich für Kiemenatmer wie Fische, weil es deren Schleimhäute und feinen Blutgefäße angreift und zersetzt. "Es entstehen offene Wunden auf den Kiemen. Die Tiere haben erhebliche Probleme mit der Atmung und ein Teil der Tiere erstickt". Entlang der Oder wurden laut Geßner auch mindestens 40 Störe aus dem Besatz der vergangenen drei Jahre tot entdeckt. Sie befanden sich im Unterlauf der Oder beziehungsweise im Mündungsbereich zum Stettiner Haff. Inwieweit weitere Tiere bei den Aufräumarbeiten unentdeckt geblieben sind, ist aber nicht seriös zu ermitteln.

Oderausbau ist fatal für Störprojekt

Dr. Geßner ist nicht nur traurig, sondern auch wütend. Denn der massive Oderausbau, die entstandenen Staudämme, der Verlust von Nebengewässern, der Klimawandel und das daraus resultierende Niedrigwasser beeinflussen das Störprojekt negativ. "Und jetzt haben wir mal richtig vor Augen geführt bekommen, auch was die Einleitung von Schadstoffen in die Oder angeht, was für katastrophale Folgen die Eingriffe in das System haben können. Ganz ehrlich: Was mich wirklich mitnimmt daran, ist, dass man nicht das Gefühl hat, dass da ein Lerneffekt einsetzt, dass dieser Stress, der durch die Ausbaumaßnahmen und die starken Umweltveränderungen auf Gewässer ausgeübt wird, in irgendeiner Form zurückgenommen wird und nach konstruktiven Lösungen für ein verbessertes Management des Flusses gesucht wird". Der Forscher blickt dabei auf die Politiker und fühlt sich mit seiner wissenschaftlichen Expertise nicht gehört. Das Leibniz-Institut hatte bereits Ende 2020 vor den ökologischen Risiken eines Oderausbaus gewarnt und dazu eine Dokumentation veröffentlicht.

Ökosystem Oder zerstört - Erholung dauert Jahre

Die Wissenschaftler sind sich sicher, dass durch die Umweltkatastrophe der Lebensraum in der Oder massiv beeinträchtigt wurde. Denn auch viele Schnecken und Muscheln sind verendet, Großmuscheln etwa wachsen sehr langsam. Der Fischereibiologe schätzt, dass es acht bis zehn Jahre dauern wird, bis sich deren Bestand wieder erholt hat. Daher ist es aktuell noch unklar, wie schnell sich Flora und Fauna erholen werden. Hier liegt ein wichtiger Einfluss auch auf das Störprojekt, denn der Baltische Stör ernährt sich hauptsächlich von kleinen Würmern, aber auch von Insektenlarven und kleinen Krebsen. Jörn Geßner hofft, dass sich das Nahrungsnetz in den nächsten Jahren wieder erholt und die jetzt massiv betroffenen Glieder sich weder in ausreichender Anzahl einfinden, um das Ökosystem zu stabilisieren.

Monitoring kann nicht starten

Das langfristige Ziel des Projektes ist, dass sich Störe irgendwann einmal selbst in der Natur reproduzieren und dass die Tiere nachhaltig genutzt werden können. Auch dieses Ziel hat die Umweltkatastrophe an der Oder beeinflusst. Denn eigentlich sollten in diesem Jahr große Tiere ausgesetzt werden. Die Störe wurden in Born vorgestreckt, sie bringen nun vier bis acht Kilogramm auf die Waage. Ihnen sollte ein akustischer Sender implantiert werden, erzählt Christin Höhne. "Wir wollten schauen, welchen Weg die Tiere aus der Oder in die Ostsee nehmen und wo sie sich dann aufhalten. Das haben wir nun erst einmal gestoppt". Denn derzeit ist unklar, ob und wie lange das Algengift in der Oder noch aktiv ist. Die Wissenschaftler haben aber die Hoffnung, dass andere erwachsene Tiere, die bereits ausgesetzt wurden, die Umweltkatastrophe überlebt haben, weil sie sich bereits im Stettiner Haff oder in der Ostsee befanden. Das großangelegte Projekt hat zudem Partner im gesamten Ostseeraum. Auch Polen, Lettland, Litauen und Estland setzen Störe aus Born aus.

Wiederansiedlung dauert Jahrzehnte

Baltische Störe benötigen eine entsprechende Größe, um laichreif zu sein, Männchen müssen mindestens 1,50 Meter lang, Weibchen 1,80 Meter lang sein. Auch das Alter spielt eine Rolle. Weibliche Tiere brauchen 15 bis 20 Jahre, bis sie geschlechtsreif sind, Männchen 9 bis 12 Jahre. Die Wiederansiedlung der Tiere ist also ein langwieriger Prozess. "Ich wünsche dem Baltischen Stör, dass er sich bald wieder erholt, dass seine Population wächst und wir bald wieder laichbereite Elterntiere haben, die dann hoffentlich in die gesunden und revitalisierten Flüsse ziehen zum Laichen". Christin Höhne weiß aber auch, dass es zeitlich sehr schwer zu beziffern ist, wann das sein wird. Den Erfolg dieses Mehrgenerationenprojektes wird die junge Biologin vielleicht noch erleben. Sie und alle beteiligten Wissenschaftler hoffen, dass es für das Wiederansiedlungsprojekt noch ausreichend lange Unterstützung geben wird, von den beteiligten Ländern, dem Bund und der Europäischen Union, um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen. Und dass sie aus der Oderkatastrophe lernen und der Baltische Stör davon durch eine Verbesserung seiner Lebensbedingungen profitiert.

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NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 30.08.2022 | 06:00 Uhr

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