1 Jahr Corona und wir: Zukunft! Wie die Pandemie unser Leben verändern kann
In jeder Krise steckt auch eine Chance. Seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 fragen wir uns in Mecklenburg-Vorpommern, was wirklich wichtig ist und wie es weitergehen soll. Der erzwungene Stillstand verschärft Probleme und zeigt zugleich positive Effekte: Entschleunigung für Einzelne, aber auch eine Rekordsenkung der klimaschädlichen CO2-Emissionen. Wie lassen sich durch Corona Konzepte neu denken?
Weniger CO-2-Emissionen, Homeoffice für alle, kreative Ideen für Kultur trotz Corona. Die Ausnahmesituation zeigt, was anders oder möglich sein könnte. Die Einschnitte haben rasante Entwicklungen nach sich gezogen, die wohl unumkehrbar sind. Die Veränderungen sind tiefgreifend. Videokonferenzen gehören für einen Teil der Arbeitswelt nun zum Alltag. "Wir gehen niemals wieder davon zurück", sagt der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer voraus, der an der Europa-Universität in Flensburg als Professor Transformationsdesign lehrt und die von ihm mitgegründete, gemeinnützige Stiftung Futurzwei leitet. "Das ganze Universum der Dienstreisen, das Universum der Meetings und Konferenzen mit einer ganzen Kette an Cateringunternehmen, Taxiunternehmen, Fluggesellschaften und Hotelbetrieben" würde sich fundamental verändern und schrumpfen. Schon allein aus Kostengründen. Dies wiederum ziehe weitere strukturelle Veränderungen nach sich. Alle wissen nun: Sie können bequem einen Teil ihrer Zeit zu Hause arbeiten, online einkaufen. "Die werden auf's Land gehen, wir werden eine Aufwertung der ländlichen Räume sehen. und zwar in der Stadt und auf dem Land", sagt der Zukunftsforscher.
Wie leben und arbeiten?
Diesen Trend spürt bereits jetzt die Immobilienmaklerin Bedrana Kowalke. Im Januar 2021 erreichen sie 70 Immobilien-Anfragen täglich. Die Interessenten kommen aus den Metropolen, aus München, Frankfurt und Berlin. Früher schon interessierten sich die Städter für Ferienobjekte in der Region Mecklenburgische Seenplatte, doch nun hat die Maklerin es mit immer mehr Menschen zu tun, die es auf der Suche nach einem neuen, dauerhaften Zuhause in die Gegend rund um Feldberg zieht. "Die machen Homeschooling und Homeoffice und merken, wie eng doch ihre Wohnung werden kann", erzählt Bedrana Kowalke, die selbst vor zehn Jahren von Berlin nach Mecklenburg gekommen ist. Verändert habe sich auch, dass sich oft mehrere Familien zusammen schließen, "also, da geht’s nicht nur darum, dass man sein eigenes Ding macht, sondern dass auch der gemeinschaftliche Gedanke ganz groß im Vordergrund steht", meint sie. So wie ein Paar, dass sich im Januar in Dolgen bei Feldberg einen Vierseitenhof ansieht, mit genügend Platz für ein Waldgarten-Projekt. Die Wohnform der Zukunft könnte sich jedoch auch in den Städten ändern, sagt Harald Welzer, weg von überteuerten Wohnungen in verdichteten Innenstädten hin zu sinnvoller Nutzung von künftig leer stehenden Büroräumen. Diese ließen sich beispielsweise für Konzepte von gemeinschaftlichem Wohnen und Arbeiten ausbauen. Jetzt böte sich eine Chance, "Dinge umzusetzen, die uns besser durch das 21. Jahrhundert bringen, als wir dies bislang ohne Krise fortgesetzt hätten."
Corona-Krise als Chance
Allerdings: Eine "proaktive Gestaltung" von umwälzenden Veränderungen sei zunächst eher die unwahrscheinlichste Strategie für historische Herausforderungen, sagt Welzer. Doch Naturkatastrophen wie die Corona-Pandemie hätten das Potenzial, ebenso wie Kriege oder Revolutionen, unaufhaltsame Veränderungen auszulösen, mit denen niemand gerechnet hat. Zumal die Pandemie sichtbarer gemacht habe, welche "Wundstellen, welche Problemzonen" der Gesellschaft bereits vorher da waren. Das sieht auch Hennig Vöpel so. Der Ökonom leitet das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) und ist Vorsitzender des Zukunftsrates Mecklenburg-Vorpommern. 49 Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen des Landes sollen in diesem Bürgerrat vordenken, diskutieren und Vorschläge für eine Zukunftsstrategie unterbreiten. Er sieht in der Krise eine einmalige Chance für "echten sozialen Fortschritt", sie habe alle getroffen und dafür sensibilisiert, "was uns verwundbar macht, für das, was wichtig ist im Leben".
Es sei aber wichtig, die Erfahrungen zu nutzen, den Solidaritätsgedanken aus der Anfangszeit in die Zukunft hinüber zu retten, da zwischenzeitlich durchaus auch gegenteilige Entwicklungen und Polarisierungen zu erkennen seien. Tatsächlich sind die Menschen sehr unterschiedlich durch die Pandemie gekommen, sie sind auch nicht gleich von ihren Auswirkungen betroffen. "Bestehende Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten" seien nicht nur sichtbarer geworden, sagt Harald Welzer, sie hätten sich auch vertieft. "Ich finde das wirklich schlimm, was etwa die Ausstattung der Pflegeberufe angeht, dass es da mehr oder weniger beim Klatschen geblieben ist." Tatsächlich stellt sich ja die Frage: Welche Tätigkeiten sind in Zukunft wichtig? Wie viel Anerkennung verdienen Pflegekräfte in Altenheimen und auf Klinikstationen und wie wird ihre Arbeit entlohnt? Die Solidarität der Anfangszeit, für den Soziologen "nicht einmal ein Strohfeuer". Den gesellschaftlichen Zusammenhalt müsse die Politik im Blick behalten, meint Henning Vöpel. Und es dürfe nicht der Fehler gemacht werden, sich zurückzulehnen, denn auch für die fortschreitende Digitalisierung gebe es viel zu tun.
Klima, Kleingärten und Konzepte
Auch Andrea Boldt denkt in ihrem Dorfladen in Bernitt über die Zukunft nach, über das Zusammenleben und darüber, wie und womit die Menschen ihr Geld wohl weiter verdienen. "Wie wird das alles werden?" fragt sie sich im Dezember 2020 im Interview mit dem Nordmagazin und meint: Sie lässt sich überraschen. Andrea Boldt hat in ihrem Dorfladen eine Veränderung gespürt: "Die Hektik ist raus gegangen." Und sie merkt, wie sehr auch ihre Kunden ins Nachdenken gekommen sind, dass Dinge überdacht werden, anders gemacht werden als sonst". Anders, bewusster leben, Zeit haben… In Umfragen auf der Straße und am Strand berichten im Frühjahr 2020 viele Passanten von diesen positiven Nebenwirkungen. Allen Belastungen und Sorgen zum Trotz haben die Wochen und Monate mit Corona anfangs für viele einen spürbaren Nebeneffekt. Raus aus dem Hamsterrad, mehr Zeit, mehr Muße. Fahrradläden erleben einen Ansturm, auch Parzellen in Kleingartenvereinen sind gefragt wie nie.
Auch Konsumgewohnheiten stellen sich um. Die Hofgemeinschaft Pommern um Rothenklempenow muss ihre Gemüsenanbauflächen verdreifachen, so sehr steigt die Nachfrage nach regionaler Bio-Kost. Und auch die Natur atmet auf. Karsten Klaene, Ranger im Nationalpark Jasmund, hofft im Frühling im "Hanseblick Rügen - Auszeit für eine Insel", die Natur könne sich nun endlich einmal regenerieren. Was lange schwer erreichbar schien: Die CO-2-Emissionen sind 2020 auf ein Rekordtief gesunken.
Ein großer Anteil dieser Einsparungen ist auf den erlahmenden Landverkehr im Lockdown zurückzuführen. Doch vermutlich war dies lediglich eine Delle. Wie nachhaltig positive Effekte sein werden, hängt auch von vernünftigen Strategien für einen wirtschaftlich Umbau- oder Wiederaufbau ab, sagt auch die Politökonomin Maja Göpel, die die Bundesregierung in nachhaltiger Wirtschaft berät. Und Harald Welzer meint: "Die Zukunft kann dann wirklich gut gelingen, wenn man die Erfahrung der Krise so auswertet, dass man sagt: Wir machen es jetzt besser!" Der Zukunftsrat MV soll Ökologie mit denken. Er wird noch im März Vorschläge und Ideen der Landesregierung vorstellen.
