Kommentar: Corona-Pandemie beendet? Debatte setzt falsches Signal
Mit dem Ende der Isolationspflicht in einigen Bundesländern werden die Rufe nach der Abschaffung aller Corona-Maßnahmen lauter. Dem Virus vor dem Winter alle Türen zu öffnen, dürfte jedoch das falsche Signal sein.
Zunächst mal: Die Pandemie für beendet erklären kann nur die Weltgesundheitsorganisation, die WHO. Dort sitzt die wissenschaftliche und gesundheitspolitische Expertise, und deshalb ist diese Entscheidung dort auch gut aufgehoben. Dafür ist es einigermaßen unerheblich, was Friedrich Merz, die FDP, der Stiko-Vorsitzende oder der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, meinen - wohlgemerkt ein Orthopäde. Die WHO hat die Pandemie nun mal noch nicht für beendet erklärt. Und das hat gute Gründe.
Inzidenzen, Impfzahlen und Mutationen müssen weiter beobachtet werden
Wie der Name schon sagt, ist eine Pandemie eine globale Angelegenheit. Da gibt es eine Menge Faktoren zu beachten, zu überwachen und langfristig im Blick zu haben. Dazu gehören natürlich die Inzidenzen und Fallzahlen. Nur zur Erinnerung: In Deutschland etwa ist die Herbstwelle gerade erst abgeebbt. Dazu gehört außerdem die Impfquote. Und was den zweiten Booster angeht, auch da muss man noch nicht mal besonders weit gucken. Den angepassten Impfstoff haben nicht mal drei Millionen Menschen in Deutschland bisher genutzt. Nicht zuletzt gehört dazu die Überwachung der Virusvarianten, und auch wenn sich das Virus - nach allem, was man weiß - in jüngster Zeit nicht in eine bedrohliche Richtung entwickelt hat: Sicher vorhersagen kann man Mutationen leider nicht, das hat die Vergangenheit allzu deutlich gezeigt.
Es gibt gute Gründe, über die Isolationspflicht zu diskutieren
Tatsächlich: Es gibt gute Motive, um aus gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Sicht über die Isolationspflicht zu diskutieren. Massive Arbeitsausfälle gehören dazu, Personalmangel in der kritischen Infrastruktur, die Einschränkungen, die unterprivilegierte Kinder sonst bei der Bildung hinnehmen müssen, weil die Schulpolitik es in mehr als zweieinhalb Jahren Pandemie nicht hinbekommen hat, eine vernünftige Infrastruktur und Rückfall-Szenarien zu entwickeln. Und auf der Haben-Seite sicher die fortschreitende Immunität der Menschen, von denen viele bereits eine oder zwei Infektionen durchgemacht haben.
Maske tragen - simple Kosten-Nutzen-Rechnung
Trotzdem: Jetzt vor dem Winter, der es dem Virus wieder leichter machen wird, ist es keine gute Idee, die Isolationspflicht aufzuheben, weil damit noch ein Stück mehr Kontrolle aus der Hand gegeben wird. Und es war noch nie ein guter Plan, dem Virus einen Vorsprung zu gewähren. Vor allem aber ist das zu diesem Zeitpunkt das falsche Signal. Schon geht die Debatte um das Maskentragen wieder los. Dabei wäre es eine ganz simple Kosten-Nutzen-Rechnung: Mit einem wirklich einfachen und wenig einschränkenden Mittel könnte man viel Gravierendes noch für ein paar Monate verhindern. Long Covid ist real, und sollten die Zahlen wieder hoch gehen, hätten wir unsere wirkungsvollste Maßnahme direkt an der Hand, um die vor einem gesteigerten Ansteckungsrisiko mit zu schützen, die nach wie vor durch Corona gefährdet sind.
Keine gute Idee, dem Virus alle Türen aufzumachen
Ja, das Virus hat ein bisschen seinen Schrecken verloren, und das ist natürlich eine gute Nachricht! Trotzdem wäre es schön, wenn wir zeigen würden, dass wir nicht nur schwarzweiß denken können. Bevor jetzt der große Aufschrei kommt: Nein, auch das so genannte "Team Vorsicht" ist nicht der Meinung, dass das jetzt ewig so weitergehen sollte, zumindest die Vernünftigen darunter nicht. Nur: Gerade jetzt ist es noch keine gute Idee, dem Virus alle Türen aufzumachen.
Die Zeit wird kommen, in der wir Corona behandeln können wie andere Viren auch, und sie ist hoffentlich nicht mehr weit entfernt. Ob das aber im Frühjahr sein wird, entscheidet das Virus - und nicht Friedrich Merz.
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