Christoph Türcke © picture alliance/dpa Foto: Jens Kalaene

Gesinnung und Verantwortung: Wie der Krieg die Haltungsfrage stellt

Stand: 03.06.2022 15:48 Uhr

von Christoph Türcke

Gibt es einen Ausweg aus der Gewalt-Lüge-Spirale?

Dadurch bekommt das Wort "Gesinnungsethik" einen neuen Zungenschlag. Max Webers Paradebeispiele dafür waren das Feindesliebegebot Jesu - du sollst dem Bösen nicht widerstehen - und Kants kategorischer Imperativ: Handle immer so, wie alle es tun müssten. Das sind Gebote, die aus sich selbst heraus unbedingte Geltung verlangen, ohne Rücksicht auf die Folgen. Doch Politiker, so Weber, kommen bei ihrer unvermeidlichen Macht- und Gewaltausübung nicht umhin, die Folgen einzukalkulieren. Für sie gilt: "Du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst bist du für seine Überhandnahme verantwortlich." Es stimmt natürlich nicht, dass Jesus und Kant die Folgen ausgeblendet hatten. Im Gegenteil: Wenn wir elementare Grundsätze nicht strikt beherzigen, ist die Folge, dass wir aus der Spirale von Gewalt und Lüge nie herauskommen. So ihr Argument. Es sticht bis heute. Der Haken ist nur: Wenn wir sie beherzigen, kommen wir auch nicht heraus. Wer dem Bösen nicht widersteht, damit es sich nicht fortsetzt, lässt es gewähren. Wer die Lüge auch dort unterlässt, wo sie Mord verhindert, wird am Mord mitschuldig.

Beide, Gesinnungs- und Verantwortungsethik, wissen keinen definitiven Ausweg aus der Gewalt-Lüge-Spirale, und beide haben Handlungsfolgen im Blick; letztere eher die kurzfristigen (das Schlimmste verhindern); erstere hingegen vor allem langfristige (Befriedung der Menschheit). Im Ernstfall erachtete Weber die Gesinnungsethik als verantwortungslos. Leider gilt auch - und das mochte er nicht hören - das Umgekehrte: Ohne rote Gesinnungslinien lässt sich alles verantworten. Die Gegenüberstellung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist selbst ein abstraktes Konstrukt - und politisch deshalb so beliebt, weil es notfalls immer gestattet, Gesinnungslosigkeit als Verantwortlichkeit auszugeben. Die reale Debatte läuft hierzulande denn auch nicht zwischen Gesinnung und Verantwortung, sondern über Handlungsfolgen. Mit der Ausbildung von Ukrainern an den gelieferten Waffen schlittern wir in den Dritten Weltkrieg; wir provozieren den Diktator zum Äußersten, sagen die einen; die andern: Nein, wir zeigen ihm Grenzen auf seinem Weg zum Äußersten auf. Ob er sie eines Tages überschreiten wird, weiß niemand im Voraus. Die Hemmschwellen dafür so hoch wie möglich halten: Das tut man gegenwärtig nicht mit permanenten Gesprächsangeboten und Konzessionen, sondern nur mit strikten Grenzziehungen bei gleichzeitigen Gesichtswahrungsmöglichkeiten.

Verteidigungsfähigkeit braucht die ganze Gesellschaft

Natürlich darf keine NATO-Macht selbst in die Ukraine einmarschieren. Wohl aber nötigt uns der Krieg eine neue Gesinnungsarbeit auf: das Ende der Empfängermentalität für den Grad von Frieden, den wir Westler im globalen Vergleich durchaus genießen. Die Bereitschaft, ihn zu verteidigen, ist wiederzugewinnen. Sie wächst nicht automatisch durch Geld. Ob sie wirklich einen Dünger von 100 Milliarden Sondervermögen nötig hat (während es zur Armutsbekämpfung keine Sondervermögen gibt), steht noch dahin. Viel brisanter ist die Diskrepanz zwischen bereits bestehender Hochrüstung und Verteidigungsunfähigkeit. Die hat mehr mit Mängeln an Gesinnung und Haltung als an Geld zu tun. Verteidigungsfähigkeit braucht nicht nur die Truppe, sondern die ganze Gesellschaft. Im Alltag nennt man sie Zivilcourage.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 04.06.2022 | 13:05 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

André Szymanski und Tim Porath in einer Szene © Krafft Angerer/Thalia Theater Foto: Krafft Angerer

"State of Affairs": Fulminante und bitterböse Komödie am Thalia Theater

Regisseurin Yael Ronen ist mit ihrem großartigen Ensemble und "State of Affairs" ein rasanter, kluger Abend gelungen. mehr