Orchester ohne Dirigentinnen und Dirigenten - geht das?
Orchester ohne Dirigentin oder Dirigenten - ist das möglich? Es gibt viele Beispiele, die beweisen, das es funktionieren kann. Aber wie?
Im Februar 1922 entsteht in der noch jungen Sowjetunion das Perwy Symphonie Chesky Ensembl, auf Deutsch: erstes sinfonisches Ensemble. Persönlichkeiten wie der Komponist Sergej Prokofjew schwärmen vom künstlerischen Niveau. Der Dirigent Otto Klemperer orakelt: "Wenn das so weitergeht, werden wir Kapellmeister, uns alle nach einem anderen Beruf umsehen müssen." Es geht aber nicht so weiter. Der aufkommende Stalinismus in der Sowjetunion verstärkt die konservativen Tendenzen im Moskauer Musikleben. Das letzte Konzert ist 1933. Erst viel später, im Jahr 2008, gibt es einen Neuanfang.
Persimfans - erstes Orchester, was auf Dirigenten verzichtet
'Persimfans' ist das erste Orchester im zwanzigsten Jahrhundert, das bewusst auf die Führung durch eine einzelne Person verzichtet und stattdessen auf die Kraft des Kollektivs vertraut. Auf diese Idee beruft sich auch das US-amerikanische 'Orpheus Chamber Orchestra' gegründet 1972 in New York, exakt 50 Jahre nach 'Persimfans'. In einem basisdemokratischen Entscheidungsprozess wählen die Musikerinnen und Musiker für jedes Stück neue Konzertmeister und Stimmführer. Sie lassen sich dieses Prinzip mit dem Namen 'Orpheus Process' als Marke schützen. Es dient Unternehmensberatern als Muster für Teambildung und Konfliktlösungen.
Deutsche Kammerphilharmonie Bremen spielt nicht immer mit Dirigenten
Obwohl das Orpheus Chamber Orchestra, das bis heute besteht, keine direkten Nachahmer findet, etablieren sich nach und nach verschiedene Arten der selbstbestimmten Zusammenarbeit als Alternative in der Orchesterlandschaft. Die 'Deutsche Kammerphilharmonie Bremen' etwa, 1980 gegründet, tritt zwar meist mit Dirigenten oder Dirigentinnen auf, entscheidet aber selbst in Vollversammlungen über die Zusammenarbeit. Die festen Musikerinnen und Musiker sind Gesellschafter ihrer eigenen GBR.
Ensemble Resonanz spielt mal mit und mal ohne Dirigent
Die Mitglieder des Ensemble Resonanz in Hamburg bilden eine GmbH. Sie wechseln zwischen Projekten mit und ohne Dirigenten und sind basisdemokratisch organisiert. Da treffen sehr unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinander mit ganz verschiedenen Charakteren und musikalischen Vorlieben. "In dieser Verschiedenheit sind alle Einzelnen von uns auch relativ stark.", sagt der Geiger David Maria Gramse vom Ensemble Resonanz. "Das ist manchmal schwierig unter einen Hut zu kriegen, denn es geht ja beim Spielen von Musik darum, was Gemeinsames zu entwickeln. Das kann dann manchmal wahnsinnig schwierig sein, aber wenn uns das gelingt, dann ist das unglaublich toll, weil in dieser Reibung, zwischen starkem Individuum und Kollektiv, unglaublich viel Energie freigesetzt wird."
Seit den 2000er-Jahren sind viele weitere Orchester ohne Dirigenten entstanden
Diese besondere Energie zu spüren, reizt viele Musikerinnen und Musiker auch in der jüngeren Generation. Seit Beginn der 2000er-Jahre sind alleine in den USA acht weitere Orchester ohne Dirigenten entstanden. In Europa sorgt das international besetzte Ensemble 'Spira mirabilis' für Furore. Dessen Konzertmeisterin Lorenza Borrani erklärt das Ziel des Projekts so: "Spira mirabilis ist nicht als Orchester ohne Dirigenten entstanden, sondern als Gruppe von Musikerinnen und Musikern, die beschlossen haben, sich Zeit zu nehmen, um gemeinsam eine Partitur zu studieren." Dass die basisdemokratische Arbeit mehr Zeit kostet, ist für 'Spira mirabilis' kein Nachteil, sondern Teil des Konzepts. Auf das Kollektiv zu vertrauen, kann also auch eine besondere Form von inhaltlicher Nachhaltigkeit sein.