Stand: 04.05.2017 14:35 Uhr

Leitkultur-Debatte: "So nicht, Herr de Maizière!"

Die Debatte über die deutsche Leitkultur ist neu entfacht. Zehn Thesen hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière aufgestellt und damit für viel Diskussionen gesorgt. Es gibt Lob, vor allem aus der Union, und es hagelt Kritik. Auch unsere Gastautorin, die Journalistin Canan Topçu, tut sich schwer mit dem Begriff Leitkultur.

Ein Kommentar von Canan Topçu

Ach nein, nicht schon wieder! So dachte ich spontan. Der Bundesinnenminister hat also Thesen formuliert - passend zum Luther-Jubiläum. Ganz schön kühn, dachte ich. Alle Jahre wieder, zu Wahlkampfzwecken, holen die Parteien mit dem "C" im Namen die Leitkultur aus der Mottenkiste. Wissend, dass sich die Gegner empören werden. Und in der Hoffnung, bei all denen zu punkten, die durch die Einwanderung den Untergang Deutschlands befürchten.

Über Erwartungen austauschen

Um eines gleich klar zu stellen: Mit de Maizières zehn Thesen gehe ich nicht d'accord. In puncto "Diskussion" bin ich aber bei ihm! Weil wir nicht so tun sollten, als brauchte es für den Zusammenhalt einer so heterogenen Gesellschaft, wie Deutschland es ist, nur das Grundgesetz. Die Rechtsordnung regelt das Zusammenleben, sorgt aber nicht zwangsläufig für den Zusammenhalt. Und den braucht jedes Einwanderungsland.

Mit den Geflüchteten ist unser Land einmal mehr diverser geworden - ob wir es wollen oder nicht! Daher sollten wir durchaus darüber diskutieren, wie wir das Zusammenleben gestalten und für den Zusammenhalt sorgen wollen;  wir sollten uns Gedanken darüber machen, was unsere Gesellschaft ausmacht. Wir sollten uns sehr wohl darüber austauschen, was von Zugewanderten erwartet werden darf und was sie uns zu bieten haben, was wir uns und den neuen Bürgern zumuten dürfen und zumuten müssen.

Wir brauchen Diskurs über Identität und Identitäten

Darauf zu setzen, es werde sich schon von alleine regeln, ist naiv. Eine offene Gesellschaft braucht den Diskurs; das ist ihr Kitt! Die Frage, die sich mir allerdings stellt: Ist es sinnvoll, diese Diskussion anhand des Kulturbegriffs zu führen? Kultur ist immerhin ein "weites Feld", um mit dem Schriftsteller Theodor Fontane zu sprechen. Und vor allem: Ein Rückblick in die Geschichte unseres Landes macht deutlich, dass Kultur nicht statisch ist. Gott sei Dank ist sie es nicht! So manche Gepflogenheit, die dieses Land vor 50 Jahren ausmachte, ist passé!

Wir brauchen den Diskurs! Aber einen, der nicht über Musik und Handschlag als kulturelle Besonderheiten geführt wird, sondern einen über die Frage nach Identität und Identitäten, und zwar über individuelle und kollektive. Diese Diskussion darf auch nicht so geführt werden, dass sie ein negatives "Anderes" konstruiert. Das aber macht der Bundesinnenminister schon in seiner ersten These mit seiner absurden Aussage: "Wir sind nicht Burka." Burka verwendet er als Synonym. Als Synonym für Muslime. Damit setzt er Grenzen, schließt Muslime aus. So geht Diskussion nicht, Herr de Maizière!

 

Über die Autorin

Die Journalistin und Autorin Canan Topçu, 1965 in der Türkei geboren, lebt seit ihrem achten Lebensjahr in Deutschland. Nach ihrem Studium absolvierte sie ein Volontariat bei der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". Danach war sie Redakteurin bei der "Frankfurter Rundschau". Sie arbeitet nun freiberuflich für Hörfunk, Print- und Online-Medien. Spezialisiert hat sie sich auf die Themen Integration, Migration, Islam und muslimisches Leben in Deutschland. Außerdem ist sie Dozentin - u.a. an der Hochschule Darmstadt.

Weitere Informationen
Canan Topcu © Canan Topçu Foto: Christoph Boeckheler

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 05.05.2017 | 15:20 Uhr

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