Pussy Riot Bandmitglied Maria Alyotsjina auf der Bühne © picture alliance / ANP | Evert Elzinga Foto: Evert Elzinga

Pussy Riot in der Elbphilharmonie: Mut trifft auf Kleinmut

Stand: 24.05.2022 08:14 Uhr

Die Künstlerinnen von Pussy Riot sind auf Tour durch Europa. Nun war Station in Hamburg. Im Kleinen Saal der Elbphilharmonie machten sie deutlich, dass sie sich nicht als einfache Musikerinnen verstehen.

von Peter Helling

Es ist eine kleine, vielsagende Panne im Ablauf des Konzerts: Marija Aljochina hat sich auf der Bühne eine Zigarette angezündet, nach rund einer Stunde zorniger Klanglawinen. Auf einer Leinwand im Hintergrund laufen körnige Videos, die zeigen, wie sie und ihre Mitstreiterinnen von Pussy Riot damals, vor zehn Jahren, ihren Auftritt in der Christ-Erlöser-Kathedrale Moskaus hinlegten.

Da steht sie, die junge Frau im hellen Kleid, die für ihren Auftritt zwei Jahre Lagerhaft bekommen hat - auf turmhohen Sneakern, statt Schnürsenkel schmücken sie weiße Bänder - und zieht, Sonnenbrille im Gesicht, an ihrer Kippe. Bis ein Techniker der Elbphilharmonie von der Seite kommt und sie höflich bittet, die Kippe abzugeben: Nein, geraucht werden darf hier nicht.

Konzert zwischen bürgerlicher Akkuratesse und zorniger Re-Inszenierung

Sängerinnen von Pussy Riot in Nahaufnahme © Marijan Murat/dpa-Bildfunk
Olga Borisova und Maria Aljochina: Die Stimmen von Pussy Riot

Der Kontrast könnte kaum größer sein zwischen der bürgerlichen Akkuratesse der Elphi - natürlich unter normalen Bedingungen völlig verständlich - und dieser zornigen Re-Inszenierung eines ganzen Jahrzehnts im Widerstand gegen Putin und sein Regime. Mut versus Kleinmut? Die kleine Geste besagt vielmehr, dass an diesem Abend zwei Welten zusammenprallen.

Ohne einen Hauch Selbstbeweihräucherung wird hier auf Basis von Marija Aljochinas Geschichte schreiend durchdekliniert, wie schwer Widerstand in Putins Russland ist. Wie viel Mut es braucht, wie viel Charisma. Und dass das Geld für diesen Polizeiapparat eben zu großen Teilen aus dem Westen kommt. Gas wärmt die Menschen hier, tötet aber die Menschen dort. Zynisch, aber wahr.

Pussy Riot widmet den Abend der Ukraine

Der energiegeladene Auftritt von Pussy Riot erzählt aber auch, was der Westen, ganz vorne dabei Deutschland, lange nicht wahrhaben wollte: dass der Krieg nicht erst am 24. Februar 2022 begann, übrigens fast exakt zehn Jahre nach dem legendären Pussy Riot-Auftritt. Nein, der Krieg hat schon 2014 begonnen, mit der Besetzung der Krim. Und der Westen hat sich von den Kassandra-Rufen der mutigen Aktivistinnen nicht aus seiner Bequemlichkeit aufschrecken lassen.

Diesen Abend widmen Pussy Riot der Ukraine, dem Werben um ein sofortiges Gas- und Öl-Embargo, die Konzerterlöse fließen an ein Kinderkrankenhaus in Kiew. In einem aktuellen Antikriegs-Song klingt "Butscha" wie ein einziger gequälter Laut. Das bewegt, trifft ins Mark.
Und die weltbekannte Gruppe hat zwei Musikerinnen aus der Ukraine eingeladen, ihre Geschichte zu erzählen.

Kalte Dusche für das Publikum

Sie singen kraftvoll die ukrainische Hymne. Lauter starke Momente. Es ist wie eine sprichwörtliche kalte Dusche, wenn die Aktivistinnen kaltes Wasser aus Flaschen ins Publikum schütten. "Werdet endlich wach", scheinen sie sagen zu wollen. Die große Frage steht im Raum - tun wir genug? Die Antwort der Gruppe: Nein!

Um eine Kippe auszudrücken, braucht es einen Aschenbecher, um dieses Feuer in der Ukraine zu löschen: deutlich mehr.

 

Weitere Informationen
Maria Aljochina von Pussy Riot singt auf der Bühne © picture alliance / Geisler-Fotopress | DyD Fotografos/Geisler-Fotopress

Pussy Riot auf Deutschland-Tour: Konzert in Rostock

Das Künstlerinnen-Kollektiv Pussy Riot startete in Berlin seine Anti-Kriegs-Tour. Zu sehen sind sie auch in Rostock. mehr

Das Künstlerinnen-Kollektiv Pussy Riot in Berlin auf der Bühne © picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka Foto: Bernd von Jutrczenka

Pussy Riot in Berlin: Ein Engel, der aus der Hölle kommt

Der Krieg in der Ukraine prägt den Tournee-Auftakt von Pussy Riot. Sängerin Anastasia ist gerade von dort geflohen. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 24.05.2022 | 07:20 Uhr

This Band is Tocotronic, Cover
Podcast von ARD Kultur, rbb, NDR Kultur © ARD

"This Band is Tocotronic" in der ARD Audiothek

Der Podcast von rbb und NDR erzählt die Geschichte der Band. extern

Porträt von Philipp Schmid © NDR Foto: Sinje Hasheider

Philipps Playlist

Philipp Schmid kennt für jede Lebenslage die richtige Musik. Egal ob Pop, Klassik oder Jazz. Träumt Euch zusammen mit ihm aus dem Alltag! mehr

Peter Urban © NDR Foto: Benjamin Hüllenkremer

Urban Pop - Musiktalk mit Peter Urban

Spannende Stories, legendäre Konzerte, bewegende Begegnungen: Peter Urban hat viel erlebt und noch mehr zu erzählen. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Eine Frau und ein Mann sitzen nebeneinander auf einer Bank, hinter ihnen ist Wasser. © Pedro Deltell Foto: Pedro Deltell

Cinemare Fest in Kiel: Kino live gespielt - wie geht das?

Der Film "Schiffbruch mit Publikum" wird in Echtzeit improvisiert und ins Kino projiziert. Auf dieser Seite können Sie die Live-Produktion heute ab 19 Uhr verfolgen. mehr