Sonnenuntergang in Kairo © picture alliance / AP Photo Foto: Amr Nabil

Wie Menschen weltweit Krisen meistern - Teil 1: Der Nahe Osten

Stand: 02.09.2022 17:23 Uhr
Sonnenuntergang in Kairo © picture alliance / AP Photo Foto: Amr Nabil
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von Tilo Spanhel

Auch im Nahen Osten gibt es die Ewiggestrigen

Doch nicht jeder kann oder will kämpfen. Auch hier gibt es ähnlich wie in Deutschland viele Menschen, die ihren Blick lieber starr auf die eigenen Füße richten, versuchen zu ignorieren, dass dunkle Schatten um sie herum aufziehen.

Und so gibt es auch hier die Ewiggestrigen. Die sich an Althergebrachtem festhalten. Darauf bestehen, es so zu machen, wie ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern - bloß nicht vom Weg abweichen. Dann wird schon alles gut werden. Es ist ein Rezept zur Krisenbewältigung, das sich über Jahrhunderte bewährt zu haben scheint. Denn Traditionen bieten Sicherheit. Eine fragile Sicherheit, ja - aber es ist eine Richtschnur, die uns glauben lässt, dass das, was gestern richtig war, auch morgen noch gut sein wird. Und wer will nicht zu den Guten gehören? Aber es sind die Mutigen, die sich dagegen stellen. Die mit ihren Familien brechen, nur um ihren Überzeugungen zu folgen. Die gegen Chauvinismus und Stigmata kämpfen.

Mutig sind diejenigen, die zweifeln

Ein anderes Rezept zur Krisenbewältigung beinhaltet Religion und Spiritualität. Das ist ein Ticket, auf das gerade hier im Nahen und Mittleren Osten viele Menschen setzen. Auch in Deutschland war es vor einigen Jahren noch das Allheilmittel - hat die Menschen hoffen lassen, dort, wo es manchmal wenig zu hoffen gab. Es ist ja auch nichts Verwerfliches daran. Sich dem Gefühl hinzugeben, dass das eigene Schicksal vorbestimmt ist, hilft. Es hilft, die Umstände zu ertragen, wenn man im Glauben lebt, dass man nie wirklich alleine ist. Und dass das alles schon irgendeinen Sinn haben wird. Auch wenn dieser jetzt gerade vielleicht nicht offensichtlich ist. Für mich sind die Mutigen diejenigen, die zweifeln. Die sich den angeblich Allwissenden entgegenstellen. Denn das braucht Mut in dieser Region. Richtig viel davon sogar.

Wem Religion und Tradition nicht mehr helfen können, der läuft Gefahr abzustumpfen. Ich meine, haben Sie schon mal versucht gegen einen Militärdiktator zu rebellieren? Nein, haben Sie nicht. Wenn Meinungsfreiheit und Widerstand im Keim erstickt werden, Freunde und Familie eingesperrt und gefoltert werden oder einfach verschwinden - dann fällt es schwer, optimistisch zu bleiben. Oft bleibt dann nur die Möglichkeit, sich zu arrangieren oder zu gehen. Und wem das Geld zur Flucht fehlt, der bleibt eben. Dann hilft es vielen, die Umstände zu ignorieren: "Ja, wir haben einen Militärdiktator an der Spitze. Aber schau mal, es gibt fünf neue Eisdielen." Doch es gibt auch die Mutigen. Die Menschenrechtsanwälte, die weiterkämpfen, auch wenn sie in einem ägyptischen Gefängnis landen könnten. Die Ärzte im syrischen Aleppo, die ihre Kranken trotz Bombeneinschlägen nicht allein lassen.

Mit 65 Jahren nochmal von vorne anfangen

In der kurzen Zeit, die ich bisher hier im Nahen und Mittleren Osten als Korrespondent arbeiten durfte, waren es aber vor allem die kleinen Geschichten, die mich besonders beeindruckt haben. Wie die von Saad ad-Dine.

Vor einigen Tagen dümpelte ich mit Saad vor der Küste Beiruts auf seinem kleinen Holzboot. Die libanesische Hauptstadt lag noch im Dunst. Es war früh am Morgen. Schon Saads Vater und Großvater waren Fischer. Und auch er hat sein Leben lang nichts anderes gemacht, als aufs Meer zu fahren und Fische zu fangen. Und während wir auf die ersten Fische des Tages warteten, erzählte er mir, dass die glorreichen Zeiten lange vorbei seien. Beirut würde seit Jahren seine Abwässer ungeklärt ins Meer leiten. Außerdem schwimmt überall Plastik, deshalb gebe es schon lange nicht mehr genug Fisch. Saad zeigte dabei auf eine Chipstüte, die wie eine bunte Qualle unter dem Boot vorbeizog. Weil er oft weniger einnehmen würde, als er für Benzin, Miete und Essen ausgibt, will er sich jetzt einen neuen Job suchen. Mit 65 Jahren nochmal von vorne anfangen.

Saad hat keine andere Wahl. Der Libanon ist praktisch pleite - Sozialleistungen wie Rente oder Arbeitslosengeld kann er kaum erwarten. Also wird der Fischer bald fern vom Meer arbeiten. Als ich Saad frage, wie er da positiv bleiben kann, wo er doch alles aufgibt, winkt er ab. Es habe doch keinen Zweck, dem Alten hinterher zu trauern. Das macht auch nicht satt.

Wir müssen lernen, mutiger zu sein

Auch wenn die Menschen im Nahen und Mittleren Osten Krisen gewohnt sind, haben sie kein Patentrezept, das sie positiv bleiben lässt. Doch was wir von ihnen lernen können, ist, mutiger zu sein. Denn nur Mut hilft dabei, sich den Schatten zuzuwenden. Probleme anzuerkennen und trotzdem nicht aufzugeben. Und so widersprüchlich es scheint: Das Wissen darüber, das eigene Schicksal in der Hand zu haben, kann einem Kraft geben - auch wenn man sich das tägliche Brot kaum noch leisten kann oder einem Militärdiktator gegenübersteht, auch wenn die Dunkelheit manchmal übermächtig scheint -, dennoch weiterzumachen, aktiv zu bleiben, weiterzukämpfen.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 27.08.2022 | 13:05 Uhr

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